#doitride – Reportage über Raphael Netz

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Raphael Netz beim Training in Aubenhausen

Raphael Netz beim Training in Aubenhausen (© toffi-images.de)

So wie Wolfgang Amadeus Mozart mit vier seine ersten Etüden am Klavier übte, so machte Raphael Netz mit vier Jahren seine ersten Sitzübungen an der Longe. Und ist inzwischen ein Virtuose im Sattel.

Dies ist eine original Reportage aus dem Jahr 2021, erstmals veröffentlicht in St.GEORG 10/21. Deshalb entsprechen die Zeitangaben und die Pferde nicht mehr dem aktuellen Stand bei Raphael Netz. Auch macht er sich demnächst selbstständig und verlässt Aubenhausen.

Aber seine Geschichte zeigt, wie weit die Leidenschaft zum Pferd einen bringen kann. Raphael Netz dürfte der Prototyp des #doitride-Botschafters sein. Ein „doitrider“.


Ein Sommertag in Aubenhausen, dem „Home of the Dressage Horse“ der Familie Werndl. Es herrscht friedliche Stille auf der Anlage. Ab und zu wird ein Pferd vorbeigeführt, Olympiasiegerin Dalera guckt aus ihrer Außenbox und lässt dösend die Unterlippe baumeln. Und ihre Chefin? Die ist mit Ferdinand BB, „Ferdl“, in Crozet auf dem Turnier. Benjamin Werndl ist ebenfalls nicht da. Er ist mit seiner Familie zur Hochzeit von Victoria und Denis Nielsen nach Österreich in die Berge gefahren. Aber Raphael Netz hält die Stellung.

Seit fünf Jahren (also nun acht Jahren, Anm. d. Red.) arbeitet der 22-Jährige (jetzt 25-Jährige, Anm. d. Red.) in Aubenhausen. Inzwischen hat er seine eigene Stallgasse. Stolz präsentiert er „seine“ Pferde, unter anderem seine aktuell erfolgreichsten Vierbeiner, den KWPN-Hengst Elastico und den Hannoveraner Lacoste. Letzterer, „der Costi“, hat eine besonders große Box. „Er ist ja auch der King“, sagt Raphi. Lieblingspferd? „Habe ich nicht! Sind alles Lieblingspferde!“, grinst er, aber das Augenzwinkern und die innige Begrüßung des bunten Fuchses lassen erahnen, dass hier einer schon irgendwie gleicher ist als die anderen.

Lacoste war eines der ersten Pferde, die Raphael zu reiten bekam, als er 2016 bei den Werndls anheuerte. Ein schwieriges Pferd, eine Herausforderung, nicht nur beim Reiten. „Anfangs schreckte er schon zusammen, wenn man ihn nur schief anschaute“, erzählt Raphael und berichtet schmunzelnd: „Jonny (Hilberath, Anm. d. Red.) nannte ihn immer nur ,der Keiler‘, weil er beim Reiten gerne mal zeigte, wenn ihm etwas nicht passte. Aber inzwischen ist er der Championatskeiler.“

Liebevoll krault Raphael Costis Mähnenkamm. Sein Vertrauen zu gewinnen, sei „eine schwierige Angelegenheit“ gewesen. Gelungen ist es ihm unter anderem im Gelände. „Piaffiert sind wir anfangs nur im Wald. Und wenn wir dann von der Rennbahn aus nicht Richtung Wald, sondern Richtung Viereck abgebogen sind, hat er wie verrückt angefangen zu bocken.“ Wie gesagt – der Keiler. Raphael nimmt es ihm nicht übel, im Gegenteil: „Ich bin total froh, dass er so selbstbewusst geworden ist!“ Genau das war ja schließlich das Ziel all der Ausritte mit Gymnastikeinlagen.

Als der Knoten einmal geplatzt war, stellten die Erfolge sich recht schnell ein. Das erste gemeinsame Turnier der beiden war eine Junioren-M in München-Riem. Sie beendeten die Prüfung auf dem letzten Platz mit 57 Prozent. Ein Jahr später gewannen sie an derselben Stelle die S*-Kür mit 75 Prozent. Lacoste ist nicht unbedingt das Pferd, bei dem man als Außenstehender denkt: zum Siegen geboren. Aber er sieht immer so aus, als gäbe er 150 Prozent. Was inzwischen auch so ist. Der Trick? „Lacoste muss man als Reiter unheimlich beeinflussen, ohne dass er merkt, dass man ihn austrickst.“

Ziel: Happy Horse

So gelingt es Raphael, für jedes Pferd einen Weg zu finden. „Ich möchte einer der besten Dressurreiter der Welt werden. Damit meine ich, dass ich jedem Pferd gerecht werden, mit jedem mein Bestes geben möchte, und schauen, dass sie glücklich sind. Denn dann wurde ich ihnen gerecht.“

Zu vermitteln, dass Sport MIT dem Pferd geht, das ist die Mission, die alle Aubenhausen-Reiter eint. Er kennt auch das Gegenteil.

Ich erlebe Reiter, für die sind ihre Pferde die liebsten und tollsten der Welt, für die das Beste gerade gut genug ist. Aber sobald sie im Sattel sitzen, haben sie das Messer zwischen den Zähnen

Raphael Netz.

Er hingegen ist bestrebt, sich mit dem Pferd zu einigen. Lacoste brauchte Vertrauen. Sein zweites Spitzenpferd, der DM-Silbermedaillengewinner Elastico, brauchte beides, Vertrauen, ja, aber auch klare Ansagen. „Wäre er ein Mensch, er wäre ein Rocker in Lederjacke auf einer Harley“, schmunzelt Raphael und krault dem Rocker die feinen Öhrchen. Genießerisch schließt der Hengst die Augen. „Ein Rocker mit einem ganz weichen Kern …“ Der Johnson-Sohn gehört der Japanerin Akane Kuroki, einer Schülerin von Benjamin Werndl, die Elastico 2019 mit ersten Grand Prix-Platzierungen in den Niederlanden erwarb. Ein potenzielles Pferd für Tokio sollte er sein. Doch es stellte sich heraus, dass zwischen der Ausbildung, die Elastico bislang genossen hatte, und der Aubenhausen-Philosophie gewisse Unterschiede herrschen, wie Raphael es vorsichtig formuliert. Hinzu kommt, dass Elastico „richtig Hengst ist“, der auch mal recht deutlich Nein sagt, wenn er nicht will. Aber mit Geduld und Spucke haben er und Raphael sich zusammengerauft. „Wir haben uns in der Mitte getroffen“, sagt Raphael.

Sein drittes Grand Prix-Pferd, das nun ebenfalls über die Piaff-Förderpreis Tour in den großen Sport hineinwächst, ist der Hannoveraner Edward-Sohn Exclusive BB. Mit Jessica von Bredow-Werndl war der Dunkelfuchs bereits erfolgreich in der kleinen Tour, ehe er in Raphaels Stallgasse wechselte. Mittlerweile ist auch er S***-siegreich.

Acht Pferde hat der 22-Jährige bereits in Grand Prix-Prüfungen vorgestellt. Darauf ist er stolz. Sein „Meisterstück“, das erste Pferd, das er von dreijährig bis Grand Prix ausbildet, soll sein eigenes sein, der nun achtjährige Int2ition, ein Sohn des UB 40 aus einer Krack C-Mutter aus demselben Stamm wie der in den Niederlanden sehr gefragte Dressurhengst Ferdeaux. Raphael entdeckte Int2ition noch nicht angeritten in England, sah ihn an der Longe und war begeistert von seinem enorm aktiven Hinterbein. Gesehen, gekauft. Inzwischen sind die beiden platziert bis Prix St. Georges.

Als Raphael die Boxentür des Braunen mit der dicken Wuschel­mähne öffnet, nimmt er die Arme über den Kopf. Nanu? Will er etwa, dass der Wallach jetzt in der Box Männchen macht? Im Gegenteil. Int2ition senkt vertrauensvoll den Kopf und steckt ihn zwischen Raphaels Beine, der sich seinerseits mit seinem ganzen Oberkörper über seinen Hals beugt, ihn in den Arm nimmt und kräftig seine Halsmuskulatur rubbelt. Ein Ritual der beiden. Jedes Pferd hat ja so seine Lieblingsstellen …

Pferde im Blut

„Some girls are just born with horses in their souls” heißt ein markiger Spruch auf T-Shirts, Tassen oder auch Wandmotiven. Das gilt auch für Jungs, wenn man die Geschichte von Raphael Netz hört. Niemand in seiner Familie hatte etwas mit Pferden zu tun. Er aber habe schon im Kinderwagen angefangen zu kreischen, sobald ein Pferd in Sicht kam, erzählen seine Eltern. Und als er mit zwei Jahren beim Geburtstag eines Krabbelgruppenfreundes erstmals auf einem Pony im Kreis geführt wurde, war das der Beginn einer lebenslangen Liebe.

Mit vier Jahren bekam Raphael Reitunterricht. Ein Jahr lang an der Longe. „Wenn er das durchhält, will er es wohl wirklich“, so die Gedanken seiner Eltern. Oh ja, klein Raphi wollte! Jahrelang hatte er wechselnde Reitbeteiligungen und Pflege­pferde. Irgendwer fand sich immer, der den Knirps reiten ließ. Als er neun Jahre alt war, fanden seine Eltern, nun sei es wirklich Zeit für ein eigenes Pferd. Sie fuhren in einen Verkaufsstall und begutachteten die Pferde auf der Weide. Ein kleiner Blondschopf fand Gefallen an Familie Netz und lief ihnen hinterher. Der sollte es sein. Aber wenigstens einmal Probereiten. Also wurden ein Sattel und eine Trense hervorgekramt, alles aufs Pony geschnallt und der neunjährige Raphael in den Sattel gesetzt. Nach zweimal hin und herführen stand fest: Pony lieb, Deal perfekt. Dass Aki bzw. Aketenao damals erst drei war und eigentlich noch gar nicht angeritten, stellte sich erst später heraus. Ein neunjähriger Junge und ein dreijähriges Pony – klingt nicht unbedingt nach einer erfolgversprechenden Kombination. Wurde es aber. „Wir waren beides noch Kinder“, sagt Raphael heute. „Er war wie mein Bruder.“ Alles haben sie zusammen unternommen, sind im Gelände herumgejuxt, gesprungen und eben auch Dressur geritten.

Die Welt zwischen A und C übte früh eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Raphael aus. Auch deshalb, weil Akis Springvermögen eher begrenzt war. Im Viereck hingegen haben die beiden es weit gebracht. Zwei Jahre nach ihrem Kennenlernen bestritten sie ihre erste E-, nochmal zwei Jahre später die erste S-Dressur. Ein 13-jähriger Junge („Mein Frack war viel zu groß, ich sah aus wie ein Pinguin!“) und sein siebenjähriges Pony, kein Lampenaustreter der Marke „FS“ etc., sondern ein ganz normaler Haflinger. Das klingt schon mal außergewöhnlich. Noch außergewöhnlicher ist die Tatsache, dass Raphaels Reitlehrerin ihn zwar bis Klasse L gefördert und unterstützt hat, aber danach war er mehr oder weniger Autodidakt. „Ich habe immer beim Wiesbadener Pfingstturnier am Viereck gesessen und den Großen zugeschaut. Dann bin ich nach Hause gegangen und habe versucht, es nachzureiten.“ Und wenn gerade kein Pfingstturnier war, dann hat er sich eben Internetvideos der großen Reiter angeschaut.

Bis in den Landeskader schaffte Raphael Netz es mit seinem Aki. Da ritt er dann auf seinem Haflinger Seite an Seite mit den Rothenbergers dieser Welt. Sein Talent blieb nicht unentdeckt. Er bekam andere Ponys zum Reiten angeboten, mit denen er es in den Bundeskader schaffte. Bei Europameisterschaften war er allerdings immer „nur“ Reservist.

Post von Jessi

Die Ponyzeit ging vorüber, die Liebe zu den Pferden blieb. „Mir war immer klar, dass ich reiten will“, sagt Raphael. Und Jessica von Bredow-Werndl und ihr Bruder Benjamin suchten einen Bereiter für ihre Pferde in Aubenhausen. „Wir wollten am liebsten jemanden haben, den wir noch mit ausbilden können, der unsere Philosophie lernt und weiterentwickelt“, beschreibt Olympiasiegerin von Bredow-Werndl. Auf Raphael kam sie per Zufall beim Stöbern auf Instagram, wo er einige Reitvideos hochgeladen hatte. „Ich dachte, wow, der hat aber Gefühl!“ Also schrieb sie Raphael eine E-Mail.

Der traute seinen Augen kaum, als er sein Postfach öffnete und darin eine Mail von Jessica von Bredow-Werndl vorfand. „Ich dachte, das sei Fake“, sagt Raphael. War es nicht. Kurze Zeit später saß er im Zug nach Bayern und stellte sich in Aubenhausen vor. „Es hat sofort gepasst, nicht nur reiterlich, auch menschlich“, erinnert er sich.

Das fanden auch die Werndls. Zumindest die jüngere Generation. „Mein Vater hat uns erstmal belächelt, was wir denn mit einem 17-Jährigen wollen“, schmunzelt Jessica von Bredow-Werndl. Aber sie und ihr Bruder waren sich einig, Raphi eine Chance geben zu wollen. Das ist nun fünf Jahre her. Was die Werndl-Geschwister an Raphael schätzen: „Reiterlich hat er wirklich sehr viel Gefühl. Und er ist sehr reflektiert. Das ist außergewöhnlich für sein Alter.“

Ich dachte, wow, der hat aber Gefühl!

Jessica von Bredow-Werndl

Einmal angekommen in Aubenhausen, verlief die Karriere von Raphael Netz steil nach oben. 2017 folgten die ersten Schleifen in Klasse S*** und 2018 der erste Grand Prix-Sieg. 2019 gehörte Netz zur siegreichen Mannschaft der U25-EM in San Giovanni, Italien. Daraufhin wurde er in die Deutsche Bank Reitsport-Akademie berufen.

Auch wenn er das Reiten eigentlich nicht zu seinem Beruf machen wollte, jetzt lebt er seinen Traum. „Es ist genau das, was ich will. Ich liebe es, jungen Pferden ihren Körper zu erklären. Dabei geht es nicht nur darum, die Pferde zu gymnastizieren und ihnen Lektionen beizubringen. Sie sollen auch verstehen, was wir von ihnen möchten. Diese Aha-Momente, wenn der Groschen gefallen ist und sie so stolz sind auf ihre eigene Leistung – es gibt nichts Schöneres! Das macht das Miteinander mit dem Pferd aus.“

Mit Pferden tanzen – dass das funktioniert, haben Jessica von Bredow-Werndl und Dalera nicht erst in Tokio eindrucksvoll demonstriert. Was bei den Aubenhausen-Paaren begeistert, ist die Leichtigkeit, die sie vermitteln. Das ist kein Zufall. „Unser Motto ist, was man reinspielen kann, kann man auch rausspielen. Was man hingegen mit Druck hineinzwingt, bekommt man auch nur mit Druck wieder heraus.“

Das erfordert mitunter Geduld. Raphael sagt, den Großteil seiner Zeit im Sattel verbringt er damit, die Pferde dazu zu bringen, ihm ihren Körper, insbesondere ihren Rücken, zu „geben“. „Sie sind Sportler, sie müssen gymnastiziert sein. Was ich brauche, ist ein Kopf, der kann und will und einen Körper, der bereit ist. Dann kann man mit jedem Pferd alles erreichen.“

Haflinger Aki ist der Beweis. Doch zur Aubenhausen-Philosophie gehöre nicht nur die Art und Weise des Trainings, betont Raphael: „Jedes Pferd kommt bei uns jeden Tag auf die Weide, auch die Hengste. Sie brauchen das. Wenn sie nicht rauskommen, werden sie krank im Kopf. Und wenn sie krank im Kopf sind, erkrankt auch der Körper.“

Das Wichtigste, was er von den Geschwistern Werndl gelernt hat? „Das Pferd in seiner Natürlichkeit zu sehen und Demut und Dankbarkeit ihm gegenüber zu empfinden. Aber auch Dankbarkeit für jede Unterstützung, die man erfährt, ebenso wie für jeden Stein, der einem im Weg liegt, denn daran wächst man.“

Ein Vorbild hat Raphael nicht. „Ich möchte meine eigene Persönlichkeit als Reiter entwickeln. Wenn ich mit einem Pferd nicht weiterkomme, kann ich jederzeit Jessi oder Benni ansprechen. Ich entscheide dann aus dem Bauch heraus, was für mich das Richtige in der Situation ist.“

Gelernt hat er aber nicht nur von den beiden, sondern auch von den Trainern, die ansonsten in Aubenhausen ein und aus gehen, etwa Andreas Hausberger von der Spanischen Hofreitschule oder Morten Thomsen sowie natürlich von den Bundestrainern, Sebastian Heinze, Monica Theodorescu und Johnny Hilberath.

„Hier in Aubenhausen sind wir viele Profis, die sich gegenseitig unterstützen, miteinander und mit dem Pferd. Aubenhausen ist nicht nur Home of the Dressage Horse, sondern auch Home of the Dressage Rider.“

Eine Aubenhausen-Mannschaft bei einem Championat? „Das wäre natürlich cool!“ Breites Raphi-Grinsen …

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Dominique WehrmannRedakteurin

Studierte Politologin, seit 2006 bei St.GEORG. Als Jugendliche Dressurtraining bei Hans-Georg Gerlach, Michael Settertobulte und Reitmeister Hubertus Schmidt und das auf einem selbstgezüchteten Pferd. Verantwortet die Bereiche Spitzensport und Pferdezucht. Im Presseteam des CHIO Aachen und der Pferdemesse Equitana, hat für den NDR im Fernsehen kommentiert.

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