Olympisches Gold aus der Vielseitigkeit türmt sich bei ihr Zuhause. Die Team-Bronzemedaille von der Dressur-WM ist nun auch Teil der Trophäensammlung. Die wahren Schätze von Ingrid Klimke aber heißen Greta und Philippa. Ein Familienbesuch in Münster
Es ist selten, dass Ingrid Klimkes dunkelblaue Augen das Gegenüber nicht fixieren, dass sie nicht lächelt und dass sie nicht das alles, was gerade um sie herum geschieht, im Blick hat und dennoch voll und ganz dem Gesprächspartner folgt. Sie sieht, wenn Hund Lucky sich selbstständig machen will. Weiß, wer gerade aus dem Stalltor unter dem imposant rankenden Efeu herausgeführt wurde und auf dem Weg zum Dressurviereck ist. Wenn sie spricht, dann riskiert Bobby, Hale Bob, der auf sechs Championatseinsätzen sieben Medaillen gewonnen hat, einen Blick aus seiner Box in dem Stallgebäude aus gelb-grauem Klinker, der so typisch ist für die Gegend.
Wo sind die Lebensgeister?
Nur einmal hält Klimkes wacher Blick inne. Die Augen scheinen sich auf etwas unendlich weit Entferntes zu fokussieren. Es ist der Sturz im polnischen Barbarowko. Auf der Geländestrecke im CCI3*-S hatte ihre Stute Cascamara, Weltmeisterin der jungen Vielseitigkeitspferde von 2020, sich 2021 überschlagen. Ingrid Klimke war unter das Pferd gekommen, war von ihr überrollt worden, mit starken Schmerzen noch nach Deutschland zurücktransportiert worden. Die Ärzte im Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf machten ihr klar: Die Olympiasiegerin hatte Glück gehabt. Viel Glück. Zwei komplizierte Schulter-Verletzungen, dazu noch Prellungen am ganzen Körper – wochenlang fiel das Atmen schwer, sprechen war kaum möglich. In der Rückschau ist die Zeit noch präsent. „Vor einem Jahr ging es mir wirklich schlecht. So schlecht ist es mir glaube ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegangen.“ Nicht, weil sie ohne Reiten Zeit gehabt habe, über den Sturz, vielleicht sogar den Vielseitigkeitssport generell nachzudenken. „Mir ging es zu schlecht, um zu grübeln“, so die Olympiasiegerin. „So energielos, kraftlos kenne ich mich gar nicht. Ich bin morgens aufgewacht und habe gedacht, wann kommen meine Lebensgeister wieder?“
Nichts geht über dieses Team
Eine schwere Zeit. Und noch ein Dämpfer: „Im Winter kam die Nachricht, dass es noch einer weiteren Schulter OP bedurfte, also wieder zwölf Wochen raus.“ Lebensmut und Energie haben aber nur eine kurze Auszeit genommen. Denn immerhin folgten nicht nur eine Mannschaftssilbermedaille bei den Vielseitigkeits-Europameisterschaften in Avenches 2021 und Platz fünf in der Einzelwertung mit Bobby, sondern auch die Team-Bronzemedaille mit der deutschen Dressurequipe in Herning bei der WM im August 2022. Medaillen in zwei Disziplinen – auch wenn Ingrid Klimke längst aus dem Schatten ihres Vaters Dr. Reiner herausgetreten ist, knüpft sie damit an eine Familientradition an.
Dass das möglich ist, hat sie ihrem Team zu verdanken. Allen voran Carmen Thiemann, die so drahtig wie agil ist und Ingrid und ihre Pferde seit Jahrzehnten und natürlich auch Ingrids Töchter Greta und Philippa quasi von Geburt an begleitet. Carmen wurde 2020 vom Weltreiterverband (FEI) zur „Pflegerin des Jahrzehnts“ ernannt. Für Ingrid ist sie aber noch viel mehr – vielleicht dadurch darzustellen, dass man irgendeinen Superlativ nimmt und ihn dann um den Zusatz „des Jahrhunderts“ ergänzt. Carmen ist da. Immer. Und wenn Carmen da ist, dann klappt es. Sie ist nicht nur auf jedem großen Turnier dabei, sondern auch Zuhause sorgt sie dafür, dass alles rund läuft.
Nach jenem folgenschweren Tag im Mai 2021 traten die Qualitäten einmal mehr umso deutlicher zu Tage. Reiterlich sprang Greta für ihre Mutter ein, ritt die beiden Dressurnachwüchse Firlefranz und Freudentänzer. Und auch deren Vater Franziskus trainierte Greta weiter, präsentierte ihn auf einer Hengstschau in der Schweiz. Sie ritt die Holsteiner Stute Weiße Düne, die sie 2022 beim CCI3*-S in Hamm erfolgreich an den Start gebracht hat. „Tja, meine erwachsene Tochter, die jetzt schon 20 ist …“, Ingrid Klimke lächelt: „Das ist natürlich toll, ich bin stolz.“ Aber auch: „Carmen hat einen ganz großen Anteil, auch in der Zeit nach dem Unfall, weil sie das komplette Stallmanagement übernommen hat.“ Die Lasten waren von Ingrid Klimke genommen.
Oma Klimke
Nicht unerwähnt bleiben darf bei der Teamaufstellung natürlich, der Libero, präziser die Libera: Ruth Klimke, Oma, Abteilung Hausaufgabenbegleitung, aber auch gut im Bandagenaufwickeln, Hunde bändigen, bei Lucky ein nicht immer ganz einfaches Unterfangen, und natürlich auch in Sachen Pferdebetreuung flexibel einsetzbar: „Mit Asha war ich immer im Schatten der kurzen Seite der Reithalle grasen.“
Von dort sind es nur ein paar Meter bis zu den Graspaddocks, an denen die deutsche Sommerhitze nicht spurlos vorbeigegangen sind. Siena just do it und Van Hera chillen dort. Der monströse Trecker, der gemeinsam mit einem wahren Koloss von Mähdrescher den Mais erntet, interessiert sie nicht. Vielmehr, ob Ingrid Klimke bei ihrem Abstecher vielleicht ein Leckerli in der Tasche hat. Die beiden braunen Stuten hatten 2022 gute Saisons. Siena hatte es auf die Longlist für die Weltmeisterschaften in Pratoni geschafft. Van Hera hat einen CCI3* gewonnen, war im belgischen Arville international Sechste. Während die Verdi-Tochter in der Hitze döst, galoppiert ihre mütterliche Halbschwester Asha P unter Carmen Thiemann auf dem Viereck.
Busch und Dressurviereck
Die Pläne für die Pferde sprudeln nur so heraus aus Ingrid Klimke. Die Frage, die sich viele gestellt haben, ob der Platz im deutschen Dressurteam den Abschied von Ingrid Klimkes Buschkarriere markiert haben sollte, verbietet sich eigentlich schon deshalb. Dennoch nachgefragt. War der Gedanke da? Gab es jemals ein Fragezeichen im Kopf? Nein, das gab es nicht. „Wenn ich einen Kloß im Hals gehabt hätte, wenn ich in der Startbox stehe, wenn der Funke nicht so übergesprungen wäre, dann hätte ich es nicht gemacht“, sagt Ingrid Klimke. „Das sage ich auch allen Schülerinnen: Wenn du zögerlich bist und wenn du Angst hast und wenn du auf der Bremse stehst, soll ich? Soll ich nicht? Dann merken das die Pferde sofort.“
Sie sei ins belgische Arville mit Bobby und Siena gefahren. „Das Adrenalin, die Freude beim Buschreiten, die war sofort wieder da.“ Bis zu den Olympischen Spielen von Paris 2024 will sie auf jeden Fall in beiden Disziplinen dabei sein. Und es klingt nicht so, als wolle sie das auf die Teilnahme an Deutschen Meisterschaften beschränken.
Eine andere Rolle hat sie 2021 kennengelernt: die der Pflegerin. Mit Greta war sie nach Schweden zur Europameisterschaft gefahren. Dort gewann Greta zwei Goldmedaillen bei den Jungen Reitern. „Mit Pferden rumtüdeln, grasen gehen, das liebe ich, dafür war da dann Zeit.“ Greta ist schon in beiden Disziplinen erfolgreich unterwegs ist. Mit Firlefranz, Vorname „Equitanas“, ist sie Westfälische Meisterin in der Dressur geworden. Dabei ritt sie eine Kür, die sie vorher nie geübt hatte. Geklappt hat’s. Ihre Schwester Philippa ist sportlich noch nicht so viel auf Achse, aber wenn, dann klappt auch das. 2022 gewann Philippa mit ihrem Pony Mustang die Einzelwertung der Goldenen Schärpe. „Als Mutter freue ich mich wirklich, dass Greta sich reiterlich so toll entwickelt hat. Dass sie in beiden Disziplinen weiterlernen und weiterkommen möchte. Mit viel Ehrgeiz. Viel Fleiß. Und Philippa auch, die hat so ein richtiges Gespür und ganz feine Antennen für Pferde. Sie macht das toll mit ihrem Pony und ihrem Shetty. Wir reiten ja auch viel aus zusammen oder neulich waren wir mal schwimmen mit den Pferden. Morgens ist die Arbeitsphase, die Ausbildung, da reite ich wirklich einen nach dem anderen. Wenn ich nachmittags hier bin, mache ich viele Dinge, die so kommen.“ Zum Beispiel schwimmen mit Tochter und Pferd.
Stall voller Talente
Der Blick nach vorn – wenn man so will, entweder zu A oder in Richtung der nächsten weißen und roten Flagge – er fällt leicht, wenn man durch Klimkes Stall geht. Sie hat ein gutes Dutzend Top-Pferde in allen Altersklassen für beide Disziplinen.
Unter anderem die siebenjährige LaCala W v. Asagao xx, das W steht für St.GEORG-Expertin Dr. Annette Wyrwoll, die die Trakehner Stute gezogen hat, bis zu den schon sportlich bewährten Stuten.
Die Dressur-Riege führt Franziskus an, der von der Hengststation Holkenbrink zum Training nach Münster gefahren wird, dann seine Söhne Firlefranz und Freudentänzer. Das Turnierdebüt mit der inzwischen zwölfjährigen First Class v. Fürstenball 2022 bei der Qualifikation zum Lousidor Preis auf Gut Ising am Chiemsee endete mit Platz fünf. Mit der Hannoveraner Stute kam auch der damals siebenjährige Sir Donnerhall-Sohn Sir Girovanni nach Münster. Und schließlich sind da noch Right Forever v. Rock Forever und Praise him v. Shapiro. Für Viereck und lange Bügel ist damit Nachwuchs reichlich vorhanden. Wobei natürlich auch diese Bügel immer mal wieder kurz geschnallt werden. Um auf die Rennbahn zu gehen, am Berg zu galoppieren und natürlich auch immer wieder über Cavaletti zu gymnastizieren. Letzteres auch mit langen Bügeln.
Wie der Alltag aussieht im Stall Klimke, davon überzeugen sich über 257.000 Follower in den Sozialen Medien. Anne Barbrock ist die Managerin hinter den diversen Aktivitäten. Ohne sie und das Team ginge dieser kontinuierliche Austausch mit den Fans nicht, betont Ingrid Klimke. „Jeder hält mir den Rücken frei.“ Das sei wichtig für Partner und Sponsoren. „Wir haben ja diese Marke kreiert.“ Mit ihren diversen Büchern sieht sie sich in der Tradition ihres Vaters. Und etwas verschmitzt lächelnd stellt sie fest: „Das Pensum meines Vaters, der vor der Kanzlei schon im Stall war, erreiche ich wohl auch. Aber ich habe viel Energie, bin neugierig. Langeweile kenne ich nicht.“ Einen Plan gibt es, einen Wochenplan für die Pferde. „Nicht für Social Media, die Themen geben die Pferde vor.“
Reite zu deiner Freude
Längst ist Ingrid Klimke ein Vorbild für viele, die „zu ihrer Freude reiten“ wollen. Und sie selbst? Hat sie noch Vorbilder? Den Horizont könne man immer erweitern. „Herning war für mich ein Aha-Moment, schon das Trainingslager, den anderen Reitern beim Training intensiv zuschauen zu können. Dann aber auch die Chance so viele Tage am Stück mit Johnny (Hilberath) zu reiten und Moni (Theodorescu) hat geguckt.“ Anderen Reitern und Pferden zuzugucken, beim Abreiten, aber auch beim Springen – immer eine Chance. „Wenn ich dann Marcus Ehning sehe, wie der, egal auf welchem Pferd er sitzt, eine Stilrunde nach der anderen hinlegt, das ist einfach legendär. Ist immer noch mein Vorbild und wird meiner Meinung nach auch immer das Vorbild vieler junger Springreiter sein müssen, weil er es mit den unterschiedlichsten Pferden schafft, denen so viel Vertrauen zu geben, dass es leicht aussieht!“
Würde sie irgendetwas ändern? Ingrid Klimke überlegt kurz. „Nein!“ Nicht einmal, die jüngeren Pferde zunächst den jüngeren Reiterinnen überlassen? „Ich reite die Jungen gerne wirklich noch selber.“ Warum kein Lehrling zum Einsatz kommt? „Das macht mir doch Spaß. Das ist einfach meine Leidenschaft!“
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