Olympia 2024 Reiten: So tickt Isabell Werth – zu Besuch bei der erfolgreichsten Reiterin der Welt

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Isabell Werth und Olympiapferd Satchmo (li.), Warum nicht (hi.) und El Santo im Jahr 2011. (© toffi-images.de)

Mit dem Status Olympia Teilnehmer kennt Isabell Werth sich gut aus. Zwischen 1992 und 2024 ist siebenmal Teil der deutschen Olympiaequipe gewesen. Sieben Goldmedaillen, davon eine in der Einzelwertung als sie 1996 in Atlanta Olympiasiegerin wurde, sowie fünf Einzel-Silbermedaillen hat sie allein bei Olympia gewonnen.

Wir wollen die Geschichten über die Teilnehmer von Olympia 2024 wie Isabell Werth erzählen. Wir haben die Olympiateilnehmerinnen besucht, teilweise lange bevor sie gen Olympia 2024 nach Paris 2024 aufgebrochen sind. Diese Reportagen zeigen den Weg auf, der hinter den Sportlerinnen und Sportler liegt.

Es sind Isabell Werths siebten Olympischen Spiele, die die 55-Jährige in Paris erleben wird. Sie ist die erfolgreichste Reiterin der Welt. Als sie 1992 in Barcelona das erste Mal eine olympische (Mannschafts-)Goldmedaille um den Hals gehängt bekam, waren ihre Mitstreiter im deutschen Dressurteam sechs (Jessica von Bredow-Werndl) und vier Jahre (Frederic Wandres) Jahre alt bzw. (Reservist Sönke Rothenberger) noch gar nicht geboren.
In einer lockeren Serie stellen wir diejenigen vor, die hoffentlich von Olympia 2024 aus Versailles als goldene Reiter zurückkommen.

Es war einmal, im Juli 2011

Noch stehen sie auf der Stallgasse und beäugen sich vorsichtig. Warum nicht, der Hannoveraner Hüne, der nur „Hannes“ genannt wird, blickt skeptisch von oben herab und auch sein rheinischer Nachbar „Ernie“, El Santo – gerade deutscher Vizemeister im Grand Prix Special geworden – hat nur Augen für den Dritten im Bunde: Satchmo, „Satchie“, der der unbestrittene Pascha ist. Man muss kein Verhaltensforscher sein, um das zu erkennen. Wenn Satchie den Kopf hebt, die Ohren nach hinten schnellen, und er seine Oberlippe kraus zieht, gehen die beiden anderen auf Distanz, Hände an die Hosennaht – „Jawoll Chef!“ Noch sind sie die Helden, aber auf der Stallgasse lauern die, die ihre Plätze einnehmen wollen.

Unter Dressurreitern gibt es unterschiedliche Typen. Einige verstehen Dressur als Kunst. Andere als Handwerk – wo gehobelt wird, da fallen Späne. Und Kunsthandwerker findet man auch. Neben dem Spaß an Zylinder, Frack und weißen Handschuhen haben viele – aber nicht alle – noch eine Gemeinsamkeit: Haben sie ein neues Pferd im Stall, verkünden sie gerne laut und häufig, was für ein Ausnahmetalent, das sei. Meist reduziert sich die Euphorie auf den einen Satz: „So einen hatte ich noch nie!“ Und dieser Satz wird jedem entgegengeschleudert, der im Weg steht. Egal, ob man ihn hören möchte oder nicht.

Isabell Werth zählt nicht zu dieser Kategorie. Vorschwärmen von etwas, das noch nicht ist, im besten Fall eventuell mal werden kann – das passt nicht zu ihr. Vielleicht schlägt da die juristische Ausbildung durch, Vortäuschung falscher Tatsachen … Wenn es aber dann doch ein Pferd gibt, von dem auch Deutschlands erfolgreichste Dressurreiterin meint, dass sie noch nie etwas Qualitätsvolleres unter dem Sattel hatte, erweckt das Neugierde. Zumal Isabell Werth junge Pferde einschätzen kann. Das hat sie seit über 20 Jahren immer wieder unter Beweis gestellt. Sie erkennt, bildet aus und sieht dann weiter. Nicht alle sind berufen, in die Fußstapfen eines Gigolo, eines Satchmo, Hannes oder Ernie zu treten.

Nachwuchshoffnungen für Olympiasiegerin

„So einen hatte ich noch nie“ – da fällt dann doch der Satz, als eine Pflegerin den mächtigen Laurenti auf der Stallgasse anbindet. Von oben herab blickt der Oldenburger auf seine Reiterin, Kunststück bei einem Stockmaß von 1,80 Meter. Sieben Jahre ist er alt. Vor ziemlich genau einem Jahr rief Dr. Schulten-Baumer, Isabells Entdecker, an. Er habe da ein Pferd zu verkaufen. Es sei nichts für seine Stieftochter Ellen. Verschiedene Reiter hatten schon ihr Glück mit Laurenti versucht, der als Vierjähriger Fünfter beim Bundeschampionat gewesen war. „Vorbei bringen, dann sehen wir ihn uns an“, war ihre Reaktion gegenüber „dem Doktor“.

Es ist auffällig, dass Isabell Werth häufig im Plural spricht, wenn sie von ihrem Stall spricht. Erst einmal setzte sich Matthias Bouten (Anm. d. Red.: Bouten war damals bei Isabell Werth angestellt) auf das Pferd. „Ich hatte noch zu telefonieren, kam erst später in die Halle“, erinnert sie sich. „Dann habe ich ihn durch den Türspalt gesehen – Gänsehaut“. Sie deutet grinsend auf ihren Unterarm.

„Braaaaav“

Spätestens beim ersten Antraben weiß man, was den Schauer über diesen Arm hat laufen lassen. An Laurenti schwingt alles. Eine statiöse Erscheinung, trotzdem leichtfüßig. Ein Muskelpaket, das immer elastisch ist. Ein Schwung, wie man ihn derzeit im versammelten Trab bei kaum einem Pferd der Weltelite erlebt. Bewegungen von einer begeisternden Natürlichkeit, die jetzt noch veredelt werden müssen. Erste halbe Tritte funktionieren schon gut. „Der lernt mal alles!“, sagt Isabell und reitet wieder frisch vorwärts, weil Laurenti sich gerade ein wenig verkrochen hat. Der ständige Wechsel von vorwärts – und zwar richtig vorwärts! – und zurückführen ist der rote Faden des Trainings. Die Pferde werden immer wieder animiert, für ein paar Tritte deutlich Last aufzunehmen, dann geht es frisch weiter. Dabei nutzt Isabell immer wieder Punkte, an denen sich die Pferde selbst aufnehmen müssen: Starker Galopp auf der Diagonalen, der fliegende oder auch einfache Wechsel aber erst Mitte der kurzen Seite. In der Ecke davor: Außengalopp. Wer da den Galopp hält, wird zwangsläufig kurz. Und erhält ein „braaaav“, die Hand geht vor, das Gesäß häufig aus dem Sattel, Anspannung und Entspannung …

Der O-Saft am Morgen gehört dazu für die Olympiasiegerin

Isabell Werth ist eine einsilbige Reiterin. Nicht, dass sie wenig mit den Pferden sprechen würde, aber ihr Grundvokabular ist übersichtlich: „Na, na, na!“, kommt es ermahnend. Und dann „braaaav“. Die Ohren der Pferde verraten – sie verstehen diese Sprache ganz genau. Bei den Serienwechseln baut sich noch Spannung auf. Dann scheint Laurenti mitunter direkt zur Sonne springen zu wollen. Wahnsinn! Denn diese Sprünge haben eine Basis: ein genauso kraftvolles, wie schnell vom Boden abfußendes Hinterbein.

Hier wird gearbeitet. Isabell Werth ist gut gerüstet. Um neun Uhr ist ihre Mutter gekommen mit frisch grepresstem Orangensaft. „Für mich und für Frederick“, lacht die Dressurreiterin, während ihre zweite große Hoffnung schon darauf wartet, geritten zu werden: Bella Rose, eine Belissimo M-Tochter. Sohn Frederick interessiert sich allerdings kaum für die hochbeinige Stute mit dem hellen Schweif. Kaum aus dem Kinderwagen gekrochen, setzt er sich zielstrebig in Richtung Trecker-Fuhrpark in Bewegung. Das entsprechende Gebrumm macht klar: Hier ist ein Mann vom Fach unterwegs. Mary, die heute Kindermädchen ist, geht schnell hinterher. „Nichts fasziniert ihn mehr als Opas Fegemaschine.“ Doch die muss warten. Jetzt also Bella Rose.

Bella Rose, das Herzenspferd, Mannschafts-Olympiasiegerin 2021

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Bella Rose 2011 im Training im Alter von sieben Jahren mit Isabell Werth. (© toffi-images.de)

Ein ganz anderes Pferd. Eine Stute, eine Dame. Ein bisschen Diva wird man wohl sein dürfen … Ein Pferd, das durch Energie begeistert. Eifrig, übereifrig ist die Stute am Anfang. Jeder Ritt ein Tanz auf dem Vulkan. „Wer das Feuer liebt, darf den Rauch nicht scheuen“, sagt Isabell Werth und ermahnt die Stute. „Na, na, na …“ Doch guckig oder abgelenkt ist die Stute keinen Moment. Die auf der anderen Stallseite auf der Weide galoppierenden Jungpferde, die Arbeiter, die über das Dach der benachbarten Halle laufen – davon nimmt sie keine Notiz. Sollen die anderen doch gucken, hier bin ich! Ihre Welt ist das Viereck. Das weiß sie. Mal mehr, mal weniger. „Sie muss nur noch lernen, mit ihrem eigenen Ehrgeiz lässiger umzugehen“, freut sich Isabell Werth. „In München hat sie schon ganz tolle Piaffeansätze gezeigt in der Prüfung.“ Die waren in der Qualifikation zum Nürnberger Burgpokal, Bella Rose wurde Vierte, zwar noch gar nicht gefragt. Aber das macht nichts. Die Grundmechanik, die Kraft der Fuchsstute, nimmt gefangen. Und in den Momenten, in denen sie schon voll losgelassen ist, da tanzt sie. Einfach so.

Auch hier dasselbe Trainingsprinzip. Stetiger Wechsel zwischen An- und Entspannung. Nicht nur geradeaus, sondern auch in den Traversalen, in denen Isabell Werth das Tempo varriiert. Mal Druck macht am inneren Schenkel und nach vorne ausgleicht, wenn die Stute zu eng wird, nur um dann auch wieder das Tempo für ein paar Tritte etwas herauszunehmen, etwa um die Stellung zu optimieren. Da möchte man Richter bei C sein … Renvers, Travers, Schulterherein – das fördert Kraft und Koordination, Geschmeidigkeit und Geraderichten. Nach einer Dreiviertelstunde ist Bella Rose fertig. Die Energie der Stute würde sicherlich noch für weitere Trainingseinheiten reichen. Aber aus ein paar fetten Wassertropfen, die der graue Himmel schon länger angekündigt hatte, ist innerhalb von Minuten ein handfester Wolkenbruch geworden. Was die beiden Damen auf dem Viereck aber nicht davon abgehalten hat, noch ein paar Mal auf der Diagonalen im Trab richtig Gas zu geben. Eine Diva, mit allen Wassern gewaschen.

„Der beste Hengst ist der kastrierte“

„Eigentlich bin ich kein großer Hengstfan im Sport“, sagt Isabell Werth. Aber der vierjährige Feedback v. Fidertanz hat es ihr angetan. Er ist ungestüm, kommt gerade zurück von der Deckstation. „Es gab noch keinen Tag, an dem ich ihn nicht mochte“ – wenn das kein Kompliment ist.

Und Boston, der Niederländer v. Jazz. „Der ist auch züchterisch wichtig hier bei uns in der Ecke.“ Sie selbst hat ein Fohlen von dem Dunkelfuchs, das am Vortag bei der Fohlenschau mit Gold dekoriert wurde. „Ich glaube, dass er auch einmal alles lernt.“

So, fertig, Mittag. Ein großes Projekt steht noch vor Isabell Werth: Es betrifft „einen Ehemaligen“, Apache, Lieblingspferd von Mäzenin Madeleine Winter-Schulze. Der Braune ist neulich über das mannshohe Weidetor gesprungen. „Ich habe Madeleine angerufen und gefragt, ob der Beerbaum noch ein Springpferd braucht. Madeleine hat nur gefragt: Gibt‘s ‘n Video?“ Es nützt nichts. Apache wird Rentner. „Den wildern wir jetzt aus.“

Jan Tönjes hat diesen Text über Olympia Teilnehmer 2024 Isabell Werth  verfasst. Erschienen ist er im St.GEORG 8/2011.


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Jan TönjesChefredakteur

Chefredakteur ab 2012, seit 2003 beim St.GEORG. Pferdejournalist seit 1988. Nach Germanistik/Anglistik-Studium acht Jahre tätig bei öffentlich rechtlichem Rundfunk, ARD, SFB, RBB in Berlin. Familienvater, Radiofan, TV-erfahren, Moderator, Pferdezüchter, Podcasthost, Preise: Silbernes Pferd, Alltech Media Award. Präsident Internationale Vereinigung der Pferdesportjournalisten (IAEJ).

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