Die dicke Winterdecke für die Nacht und vorher noch ein warmes Mash – viele Pferdebesitzer wollen nur das Beste für ihr Tier. Doch dabei übersehen sie manchmal eines: Nicht alles, was wir als gut empfinden, ist auch tatsächlich gut für unsere Pferde. Vermenschlichen wir unsere Pferde zu sehr?
Tiere – und entsprechend auch Pferde – zu vermenschlichen, lernen wir quasi schon von klein auf in den Medien: Kleiner Donner, das mutige Pony, steht seinem besten Freund Yakari bei seinen Abenteuern bei. Nemo, der Clownfisch, der als „Einzelkind“ besonders behütet großgezogen wird, wird von seiner Familie getrennt. Oder auch Lightning McQueen, das rote Rennauto, das sich mit einem Abschleppwagen anfreundet – Vermenschlichung ist in den Medien allgegenwärtig. In Filmen, Büchern oder auch in der Werbung wird sie gezielt eingesetzt, um unsere Gefühle anzusprechen, eine Verbindung zu uns herzustellen oder um etwas besonders lustig zu machen. Anthropomorphismus lautet der Fachbegriff für die Vermenschlichung, bei der wir Tieren, göttlichen Wesen, Naturgewalten oder ähnlichem menschliche Eigenschaften zuschreiben.
Dies geschieht nicht nur in den Medien, sondern auch im wirklichen Leben. Vor allem in der Tierhaltung. Manchmal ist es offensichtlicher, etwa wenn wir unser Pferd „Schatzi“ nennen und ihm einen dicken Schmatzer auf die Nüstern geben. Manchmal handeln wir aber auch eher unbewusst danach. Zum Beispiel, wenn wir dem Pferd eine dickere Decke auflegen, weil wir es an dem Tag recht ungemütlich finden und verfroren sind.
Bestimmte Personen vermenschlichen Pferde besonders
Wissenschaftler beschäftigen sich seit langem mit dem Phänomen Anthropomorphismus, das insbesondere in der Haustierhaltung eine Rolle spielt. „Man geht davon aus, dass es sich bei der Vermenschlichung um eine Art Ersatzfunktion handelt. Studien zeigen, dass sie bei Alleinlebenden, Frauen und älteren Menschen besonders ausgeprägt ist“, erklärt Verhaltensforscherin Prof. Dr. Uta König von Borstel. Für diese Menschen hat die Vermenschlichung einen klaren Vorteil: Sie fühlen sich weniger einsam, können sich um das Tier kümmern. Ob das auch gut für das Pferd ist, hängt vom Einzelfall ab. „Personen, die zur Vermenschlichung neigen, kümmern sich sehr ausgeprägt um ihre Pferde. Diese werden gut versorgt, auf ihre Gesundheit und Ernährung wird geachtet. Wenn sich Menschen so sehr um ihre Pferde kümmern, entsteht auch oft ein Sozialkontakt zum Menschen, den auch das Pferd als positiv empfinden kann. Allerdings ersetzt dieser Kontakt niemals den Kontakt zu Artgenossen.“
Studie über Vermenschlichung bei Pferden
Erfahrene Pferdeleute sind sich durchaus bewusst, dass es negative wie positive Konsequenzen haben kann, wenn wir Pferde vermenschlichen. Das zeigt zumindest die 2024 veröffentlichte Studie „Horse Sector Participants’ Attitudes towards Anthropomorphism and Animal Welfare and Wellbeing“. 520 Personen nahmen daran teil und beantworteten eine Umfrage. Sie sahen es wie Prof. Uta König von Borstel: Pferde zu vermenschlichen, hat den positiven Effekt, dass wir uns gut um Pferde kümmern. Personen, die Pferde vermenschlichen, zeigen laut Studie ein erhöhtes Einfühlungsvermögen und sind motivierter.
Dann schadet es dem Pferd
Dem gegenüber steht die große Gefahr, dass man das Verhalten des Pferdes falsch interpretiert, so die Wissenschaftler. Mit zum Teil negativen Folgen für die Gesundheit und Psyche des Tieres. Die Forscher raten dazu, dass pferdebezogene Organisationen das Thema Vermenschlichung aktiv angehen sollten, um den Tierschutz nicht zu gefährden.
„Wenn wir menschliche Bedürfnisse zu sehr auf das Pferd projizieren, kann das schaden“, meint auch Prof. Uta König von Borstel. Sie ist unter anderem temporäres Mitglied im Fachbeirat Tierschutz der Deutschen Reiterlichen Vereinigung. „Besonders häufig sieht man das zum Beispiel bei Futterzusatzmitteln, von denen oft ganz viel gefüttert wird, auch wenn es nicht nötig ist. Oft bekommen Pferde auch viel zu energiereiches Futter, obwohl sie schon übergewichtig sind.“ Jeder, der mit Pferden zu tun hat, sollte daher die natürlichen Bedürfnisse des Pferdes und seine Physiologie kennen und berücksichtigen.
Den wahren Bedürfnissen gerecht werden
Damit wir Pferde nicht zu sehr vermenschlichen und negative Konsequenzen riskieren, müssen deren natürliche Bedürfnisse berücksichtigt und erfüllt werden. Außerdem sollte der Pferdebesitzer in der Lage sein, das Verhalten und die Mimik des Tieres zu deuten.
Sozialverhalten: Pferde leben in Herden, was für ihr Überleben in der Wildnis von entscheidender Bedeutung ist.
Ernährungsverhalten: In der Steppe finden Pferde energiearmes, faserreiches Futter vor. Um genügend Energie zu erhalten, fressen Wildpferde den ganzen Tag und kauen gründlich. Ihr Verdauungssystem hat sich an die zeitintensive Nahrungsaufnahme angepasst und stellt besondere Anforderungen an die Fütterung.
Fortbewegungsverhalten: Das Fortbewegungsverhalten der Pferde wird durch die Nahrungssuche und -aufnahme sowie Flucht bestimmt. Beim Fressen bewegen sie sich im Schritt. Bei Gefahr fliehen sie im Trab oder Galopp. Freie Bewegung ist für jedes Pferd ein Muss.
Ruheverhalten: Pferde dösen und schlafen regelmäßig. Als Fluchttiere nutzen sie oft kurze Schlafintervalle. Wenn sie sich sicher fühlen, legen sie sich zum Schlafen hin. Im Durchschnitt schläft ein Pferd drei bis fünf Stunden am Tag, davon ein bis drei Stunden im Liegen. Je nach Tagesablauf kommen weitere Ruhephasen hinzu. In der ausgestreckten Seitenlage erreichen sie Schlafphasen, die für die körperliche Erholung besonders wichtig sind.
Komfortverhalten: Pferde wälzen sich, scheuern einander und kraulen sich, um ihre Körperpflege und Hygiene zu gewährleisten. Klimareize und Sonne regen zusätzlich den Stoffwechsel an.
Erkundungsverhalten: Pferde erkunden und beobachten ihre Umgebung. So erkennen sie mögliche Gefahren frühzeitig und vermeiden unnötige Flucht.
Ausscheidungsverhalten: Pferde äppeln und urinieren nicht in ihrem Fress- und Liegebereich. Beim Urinieren suchen sie weichen Untergrund, um Spritzer zu vermeiden.
Bei Fütterung und Witterung vermenschlichen wir Pferd sehr
Vor allem bei den Themen Fütterung und Witterung übertragen wir nach Ansicht von Prof. König von Borstel zu viel menschliches Empfinden auf das Pferd und packen es zu oft in Watte ein. Dabei kommen manche Bedürfnisse des Pferdes zu kurz. „Freilebende Pferde fressen ¾ des Tages, also 16 Stunden lang und sind die ganze Zeit unter Artgenossen. Beides schränken wir ein – nicht zwingend nur wegen der Vermenschlichung, sondern auch aus anderen Gründen. Für manche Menschen ist der Hauptgrund, ihr Pferd in eine Box zu stellen auch heute noch, dass es vor anderen Pferden geschützt werden muss.“ Ein weiterer Grund könnte sein, dass Pferdebesitzer ihre persönliche Vorliebe für Sauberkeit aufs Pferd projizieren, schreiben die australischen Wissenschaftler.
Von wegen stur!
Ein weiterer Nachteil der Vermenschlichung des Pferdes besteht darin, dass die Tiere für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden. „Der macht das mit Absicht“ oder „Die ist heute wieder so launisch“ sind Sätze, die man in diesem Zusammenhang oft hört. „Die Anzeichen von Angst und Schmerz sollte jeder Pferdebesitzer kennen, das müsste geschult werden. Vor allem die subtileren Anzeichen, um damit Fehlinterpretationen zu vermeiden“, wünscht sich Prof. Uta König von Borstel. „Wie oft hört man, dass ein Pferd ganz schön stur sei, wenn es vor dem Anhänger parkt. Dabei ist es zunächst gar nicht stur, sondern hat Angst davor, in den Hänger zu steigen. Mit der Zeit lernt es vielleicht, dass es mit diesem Verhalten vermeiden kann, in den Hänger zu gehen – es hat eine Strategie erlernt. Aber das Pferd macht das nicht, um uns zu ärgern, sondern erst einmal aus Angst. Dann wird es bestraft und das macht das Ganze noch schlimmer. Das müsste viel mehr gelehrt werden, bei Reitabzeichen wäre es zum Beispiel sinnvoll.“
Solche Fehleinschätzungen kommen aus Sicht der Verhaltensexpertin auch sehr häufig bei Stereotypien vor. Also bei unerwünschten Verhaltensweisen wie Weben oder Koppen. „Viele denken, das Pferd zeigt diese Stereotypien, weil es sich langweilt. Das sind aber Verhaltensweisen, die entstanden sind, weil die ganz grundlegenden Bedürfnisse des Pferdes wie Futteraufnahme oder Sozialkontakte nicht erfüllt wurden.“
Signale des Pferdes erkennen
Die Bedürfnisse von Pferden zu kennen und zu respektieren, ist die eine Sache. Um einschätzen zu können, wie gut es ihnen gerade geht, muss man auch ihr Verhalten und ihre Mimik deuten können. Der Satz „Pferde zeigen Schmerzen nicht, weil sie Fluchttiere sind“ ist nach Ansicht von Prof. Uta König von Borstel immer noch zu weit verbreitet. „Pferde verbergen Schmerzen, aber wenn man genau hinschaut, kann man es an ihrem Verhalten und ihrer Mimik erkennen. Oft wird sich aber darum nicht bemüht, weil man der Fehleinschätzung unterliegt, dass Pferde keine Schmerzen zeigen.“ Dabei gibt es inzwischen anschauliche Ethogramme, die genau zeigen, wie man akute Schmerzen beim Pferd erkennt (horse grimace scale) und welche Signale das gerittene Pferd bei Schmerzen und Unwohlsein zeigt ( Ridden Horse Pain Ethogram).
Beispiele aus dem Alltag: Vermenschlichen wir in diesem Fall Pferde zu sehr?
Wirklich sinnvoll oder nur gut gemeint und eigentlich das Falsche für das Pferd? Sechs Situationen unter dem Aspekt der Vermenschlichung betrachtet:
Fenster zu, es zieht!
Wenn es draußen wieder eisig kalt wird, werden in einigen Ställe die Schotten dicht gemacht. Nicht, dass die Pferde Zugluft abbekommen. Das ist zwar möglich, aber anders als wir denken. „Was wir als Zugluft spüren, ist nicht das Gefährliche. Sondern punktuelle Zugluft, die wir nicht so wahrnehmen. Zum Beispiel wenn nur ein ganz kleines Fenster geöffnet ist. Der Wärmemechanismus springt nicht an, weil nur ein kleiner Teil des Körpers auskühlt. Wenn alles kalt ist, ist das nicht so schlimm, damit kommt der Körper besser klar“, erklärt Prof. Uta König von Borstel.
Warmes Futter
Eine schöne heiße Suppe, wenn das Außen-Thermometer null Grad anzeigt. Das wärmt von innen. Und weil man das auch seinem Pferd gönnen möchte, gibt es vor der Heimfahrt noch ein warmes Mash. Ist das sinnvoll? „Es gibt Studien, die zeigen, dass Pferde im Winter wärmeres Wasser bevorzugen. Ich kann mir vorstellen, dass sie auch gerne warmes Futter fressen“, sagt Prof. Uta König von Borstel. „Die Frage ist: Muss das Pferd in allen Bereichen verwöhnt werden? Wenn es krank oder sehr alt ist, ist es natürlich eine sinnvolle Maßnahme, um die Futteraufnahme zu steigern. Füttert man jedoch generell so, besteht die Gefahr, dass das Pferd vielleicht irgendwann kaltes Futter etc. verschmäht. Wir sehen auch bei uns Menschen, dass wir mit widrigen Umständen immer schlechter zurechtkommen. Wenn wir das Pferd zu sehr verwöhnen und behüten, wird es unter Umständen zu verwöhnt und auch sein Immunsystem und sein Organismus werden nicht mehr so gut trainiert.“
Abwechslung im Winter
Lieben Pferde die Abwechslung oder eher die Routine? „Das ist schwer zu sagen“, so Prof. Uta König von Borstel. Es komme darauf an, in welchem Bereich man sich bewege. Bei der Fütterung zum Beispiel ist Routine gut und sinnvoll fürs Pferd. Beim Reiten kann das schon anders aussehen, zumal viele Pferde immer wieder mit neuen Situationen klar kommen müssen, beispielsweise Turnierpferde, aber auch Freizeitpferde, die viel in unterschiedlichem Gelände unterwegs sind. „Wir wissen, dass Pferde nichts lernen, wenn man das Training nicht steigert. Ob es sich ohne Abwechslung langweilt, so wie wir Menschen, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass Pferde zufrieden sind, wenn sie Anforderungen erfüllen können. Wichtig ist, dass man beim Erlernen von Neuem nicht zu viel Druck macht – körperlich wie geistig. Das ist ein größeres Risiko als Langeweile“, erklärt die Verhaltensexpertin. Für den Lernerfolg kann Abwechslung sinnvoll sein, auch mit Pausen. Eine Studie, die Prof. Uta von Borstel geleitet hat, hat gezeigt, dass der Lernerfolg bei Pferden gleich ist, egal ob sie täglich oder nur jeden dritten Tag trainiert werden.
Streicheleinheiten
Streicheln kommt im Verhaltensrepertoire des Pferdes nicht vor. „So wie wir es machen, entspricht es zwar nicht der Ethologie des Pferdes, aber es wird sicher auch nicht als etwa Negatives wahrgenommen. Das gilt auch für das lobende Klopfen am Hals. Das hat für sich genommen keinen positiven Effekt, kann aber durchaus positiv werden, wenn es mit etwas verknüpft wird, zum Beispiel einer kurzen Trainingspause nach dem Loben oder einem Leckerli“, erklärt Prof. Uta König von Borstel. Möchte man seinem Pferd auf seine Art Zuneigung zeigen, krault man lieber anstatt zu streicheln.
Saubere Box
Eine gut gepflegte Matratze, bei der dick eingestreut wurde und nur die Pferdeäpfel täglich entfernt werden, saugt Urin gut auf und es gelangt weniger Ammoniak in die Luft. Dennoch sträuben sich viele Pferdebesitzer gegen diese Art des Mistens. Was nicht mehr ganz frisch aussieht, kommt raus aus der Box und viel frisches Stroh wieder hinein. „Wenn jeden Tag nasses Stroh herausgeholt und frisches eingestreut wird, dann entsteht keine gute Saugschicht und Urin kommt in Kontakt mit Luft und Kot. Solche Ställe riechen deutlich stärker. Das ist aus meiner Sicht auch eine Art der Vermenschlichung: Man möchte alles sauber und hygienisch haben. Dabei ist eine gut gepflegte Matratze wesentlich besser als alles herauszunehmen, auch wenn wir Letzteres als schön sauber und ordentlich ansehen“, so Prof. Uta König von Borstel.
Wellness fürs Pferd
Im Winter steht Wellness hoch im Kurs. Und auch in der Pferdehaltung taucht der Begriff Wellness immer wieder auf. Ein Klassiker sind Massagen. „Wenn man Massagen korrekt und nicht zu stark ausführt, empfinden viele Pferde das als angenehm. Der beste Indikator dafür ist das Putzgesicht, erklärt Prof. Uta König von Borstel. Dabei streckt das Pferd die Oberlippe vor und zeigt damit an, dass es jetzt gerne knabbern oder beknabbert werden möchte. Manche Pferde kreisen auch mit der Oberlippe. Schwieriger ist es, wenn stark verspannte Muskeln massiert werden. Dabei kann schnell die Schmerzschwelle überschritten werden und weil die gewünschten Effekte erst verspätet einsetzen, kann es für das Pferd schwer nachzuvollziehen sein, dass man ihm etwas Gutes tun will. Eine solche Situation erfordert viel Fingerspitzengefühl, um das Pferd nicht zu überfordern und nicht zusätzliche Anspannung zu bewirken.
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