Das war 2022: Annus Horribilis mit Lichtpunkten

Von
Moment mal_Gabriele Pochhammer

Gabriele Pochhammer, Herausgeberin St.GEORG (© Toffi)

Das Jahr 2022 – ein persönlicher Jahresrückblick von St.GEORG Herausgeberin Gabriele Pochhammer auf Krieg, Weltmeisterschaften und Klimakrise

2022 – das war kein Jahr, von dem man den Nachgeborenen vorschwärmen wird. Es war ein schreckliches Jahr, und der Schrecken begann im Februar. Jeder Mensch auf der Welt, zumindest in Europa, wird sich erinnern, wo er am 24. Februar war, als die Nachricht vom Überfall auf die Ukraine auf die Handys kamen. Ich war bei meinen Freunden in Herford , nach einem gemütlichen Abendessen unter anderem mit Reitmeister Hubertus Schmidt, wo wir über die Feinheiten der höheren Dressur im allgemeinen und die Chancen einiger Kandidaten für die kommende Weltmeisterschaft im Besonderen diskutierten. Das war auf einmal sowas von weit weg und egal.

2022: Krieg in der Ukraine

Schnell war klar, dass vor allem die Menschen, aber auch die Pferde in Not und Angst gerieten. Die für exakt den 24. Februar geplante Reise der beiden Starhengste Comme il Faut und Cornet Obolensky nach Westfalen scheiterte zunächst – auf der vorgesehenen Route rollten Panzer und Militär-LKW. Später konnte die beiden Hengste unter abenteuerlichen Bedingungen und heldenhaftem Einsatz westfälischer Pferdeleute doch noch geholt werden.

Trotz Hilfe aus Europa brach das Chaos an den Grenzen aus, meine Kollegin Dominique Wehrmann war vor Ort und berichtete in ihrem Online-Tagebuch von herzzerreißenden Szenen.

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Nur wenige Pferde durften legal die Ukraine verlassen,  hunderttausende blieben im Land, wo es immer weniger Futter und Einstreu für sie gab. Etliche kamen durch russischen Bombenterror um, andere wurden von ihren Besitzern einfach freigelassen, weil diese sie nicht mehr versorgen konnten. Ein grauenhaftes Szenario für Tier und Mensch, die Lage spitzt sich jetzt in den Wintermonaten, mit Versorgungsausfällen auf allen Ebenen, jeden Tag weiter zu. Pragmatisch wie immer, war Paul Schockemöhle einer der ersten, der half. Er diskutierte nicht lange, sondern schickte Busse in die Ukraine und mietete ein Hotel, um Menschen in Sicherheit zu bringen, viele von ihnen ehemalige Mitarbeiter auf seinem Gestüt Lewitz.

Hier in Europa ging das Leben weiter, wie es gar nicht so schön heißt, aber der dunkle Schatten der Krieges blieb. Corona war nicht weg, hatte aber an Schrecken verloren. Die Menschen freuten sich, dass sie wieder zum Turnier gehen konnten, die Pferde und Reiter live und nicht nur bei Clipmyhorse erleben, durch die Ausstellungen schlendern und die neue Reithose oder den neuen Helm vor dem Kauf anfassen und anprobieren konnten. Wie früher! Sportliche Highlights gab es wieder genug, das vierfache Weltcupfinale in Leipzig, mit rappelvollen Tribünen und entsprechend vibrierender Atmosphäre, das CHIIO Aachen wieder in vor-pandemischem Glanz mit dem Sensationssieg von Gerrit Nieberg im Großen Preis.

Über allem strahlten die Weltmeisterschaften in Herning (Springen und Dressur) und in Pratoni del Vivaro (Vielseitigkeit, Fahren). Für alle, die es noch nicht wussten: Der Pferdesport braucht keine Weltreiterspiele, wo sich alle Disziplinen versammeln. Sie haben in der Vergangenheit fast alle Veranstalter in den finanziellen Ruin gestürzt und endeten logistisch häufig im Chaos.

Wie gut es anders geht, zeigte das dänische Herning mit der WM Springen, Dressur, Voltigieren und Paradressur auf dem Messegelände, von Natur aus ja nicht die stimmungsvollste Location, aber getragen von freundlichen effizienten Pferdemenschen, die wussten, worauf es ankommt. Bei solchen Events werden immer auch Geschichten geschrieben, wie die vom schwedischen Champion Henrik von Eckermann auf seinem Barfuß-König King Edward und die vom bedauernswerten Europameister André Thieme, der nach einem Riesensatz von Chakaria im Sand landete – sorry, das nochmal zu erwähnen, aber auch die Bilder der traurigen Helden gehören ja irgendwie dazu.

In der Dressur lief es ohne die baby-pausierende Jessica von Bredow-Werndl so lala, Isabell Werth und Benjamin Werndl hätten beide eine Einzelbronzemedaille verdient gehabt, die Richter fanden wohl, sie waren nicht „dran“, Teambronze war die magere Ausbeute. Dass der Corona-Infizierte britische Dressurreiter Garreth Hughes ohne Ansage seine Mitstreiter umarmte, außerdem der 79-jährigen Königinnenschwester Prinzessin Benedikte herzlich die Hand drückte, war ein kleiner Skandal, aus dem schnell ein großer hätte werden können, wenn sich jemand infiziert hätte. Wir erlebten den Aufstieg des neuen Dressursternchens Lotti Fry (22), zweifache Weltmeisterin auf dem Galoppwunder Glamourdale, und ärgerten uns über die vorschnelle Verkündigung einer neuen Dressurära des feinen gefühlvollen Reitens. Da haben ein paar Leute wohl seit 30 Jahren Tomaten auf den Augen gehabt, und die Ritte einer Nicole Uphoff oder Jessica v. Bredow-Werndl nicht gesehen. Die gut gelaunte Ansage, dass auf den beiden Treppchen der Einzelentscheidungen diesmal kein Deutscher stand, war nicht ohne Häme.

Glanzvolle Tage erlebte die Vielseitigkeit in Pratoni del Vivaro vor den Toren Roms, einer Landschaft, die unseren Lateinbüchern entsprungen scheint: ein sanftes Hügelland gekrönt von romantischen Dörfern, Wiesen die zum Picknick einladen oder eben zum Querbeetreiten. Mit seiner Geländestrecke hat der Aufbauer Giuseppe della Chiesa den Nerv der Zeit getroffen hatte. Nicht zu aufwendig und so, dass jeder, der sich auf diesem Niveau qualifiziert hatte, rüber kommen konnte. Das dürfte auch dem prominentesten Besucher dieser WM, IOC-Präsident Thomas Bach, gefallen haben. Bleibt zu hoffen, dass er sich so engagiert für den olympischen Pferdesport einsetzt, wie dieser es verdient.

Uns „kleine“ Züchter und Pferdehalter plagten in diesem Sommer ganz andere Sorgen: Explodierende Preise für Futter und Einstreu brachten viele an den Rand des Finanzierbaren. Alle Ställe mussten die Preise erhöhen, um weiter rum zu kommen, die zweite Heuernte fiel wegen der Trockenheit vielerorts aus, im Herbst standen viele Pferde auf völlig verdorrten Weiden. Schuld war der Klimawandel, heißt es. Jetzt regnet und schneit es wieder – und vielleicht füllen sich die Wasserspeicher auf, so wie unsere Hoffnungen für das Neues Jahr. Da kann vieles nur besser werden. Das wünsche ich Ihnen und uns allen.

Frohe Weihnachten!

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Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

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