Es war ein weiter Weg vom ersten Reitturnier in der Soers, die damals eine mehr oder weniger grüne Wiese war, bis zum „Weltfest des Pferdes“, als das sich der CHIO Achen heute stolz präsentiert. Eine Ausstellung feiert den 100. Geburtstag.
Als Kind durfte ich genau einmal im Jahr die Schule schwänzen. Das war der Samstag von Aachen. In den grauen Vorzeiten, von denen ich rede, war noch nicht die Fünftagewoche für Lehrer und Schüler eingeführt. Im katholischen Rheinland gab es am Freitag davor einen Feiertag namens Peter und Paul. Also lagen drei Tage CHIO vor mir. Drei Tage, fast so schön wie Weihnachten. Ich quartierte mich bei einer Tante ein, fuhr mit dem ersten Bus in die Soers und mit dem letzten zurück.
Wenn man was von der Dressur sehen wollte, musste man zu nachtschlafender Zeit am Dressurviereck stehen, einem einfachen Sandplatz, umgeben von ein paar Holzbänken. Dort saßen auch die Großen, die Berühmten, die Neckermanns und Linsenhoffs, denn es gab ja nichts anderes zum Sitzen. Ich machte große Ohren, hörte sie fachsimpeln, klatschen, lästern und sich über ihre Noten ärgern, die auf einer Schiefertafel aufgemalt wurden. Wenn der Mann mit der Kreide kam, rannten sie alle dahin. Elektronische Anzeige gab es noch nicht. Schon damals war mit den Noten meist nur der Sieger glücklich.
Autogrammjäger und Nationalhelden
In den Prüfungspausen strolchte ich durch die Ställe, kannte jedes Pferd mit Namen und plauderte mit den Pflegern. Ließ sich ein Reiter blicken, wurde er meist sofort von einer Horde Kinder umlagert, alle wollten ein Autogramm und bekamen meist auch eins. Es gab unter uns ein reges Tauschgeschäft, dreimal Winkler gegen einmal Nelson Pessoa zum Beispiel. Hans Günter Winkler war der Nationalheld, gewiss, aber dem glutäugigen Brasilianer Nelson Pessoa, der mit dem kleinen Schimmel Gran Geste gewann, was er wollte, gehörte unser Herz. Ich war dabei, als Meteor von Fritz Thiedemann und Halla unter Winkler ihre letzten Parcours gingen, beide waren schon über den Zenit. Auch Legenden altern, das lernten wir damals.
Der Große Preis von Aachen war ein Springen mit Stechen bis zur Entscheidung, auch genannt bis zur Verzweiflung. Am Ende standen da nur noch ein Oxer von den Ausmaßen eines Wochenendhauses und eine Mauer, für die die Parcourshelfer auf ein Podest klettern mussten, wenn sie die oberen Teile zurechtrücken wollten. Dieser Modus ist zum Glück längst abgeschafft. Auch vieles andere ist anders. Herumstrolchen geht gar nicht mehr, die Ställe sind gesichert wie ein Hochsicherheitstrakt, ohne Bändchen oder eine in Plastik eingeschweißte Akkreditierung, die man nur nachts ablegt, kommt man nirgendwo hin. Nur selten kreuzt ein Reiter den Weg eines kleinen Autogrammjägers. Dafür werden eigene Autogrammstunden veranstaltet, bezahlt vom jeweiligen Sponsor.
Familie Pessoa in der Soers
Ich erinnere mich, als Nelson Pessoa zum ersten Mal seinen kleinen Sohn mitbrachte, Rodrigo, der mit wichtiger Miene und seinen kurzen Beinen den Kurs abschritt. Noch ein paar Jahre später besiegte er seinen Vater im Großen Preis von Aachen, Hand in Hand galoppierten sie auf der Ehrenrunde und wahrscheinlich gibt es für einen Reiter oder überhaupt jeden Sportler nur eines, was schöner ist als der Sieg: der Sieg des eigenen Sohnes.
Der CHIO wurde jedes Jahr ein bisschen prächtiger. Als die Weltreiterspiele 2006 anstanden, wurde alles generalüberholt. Die Stehplatzwiese, auf der die Aachener bei mitgebrachtem Picknick den Pferden zuschauten, wich einer riesigen Tribüne. Auf dem Platz, auf dem die Kutschpferde warm gefahren wurden, steht jetzt ein weißer zweistöckiger VIP-Palast, dessen Zugang streng geregelt ist: goldenes Bändchen für den Eröffnungsabend, täglich wechselnde Farben für alle anderen Bereiche. Es hat was von den sieben Höfen eines chinesischen Palastes: Wer im ersten ist, darf noch längst nicht in den letzten. Der CHIO Aachen ist ein riesiges Wirtschaftsunternehmen geworden. Man träumt von Expansion. Eine weitere Megahalle ist geplant, noch ein Turnierplatz, noch mehr Veranstaltungen. In einem Campus-Programm helfen Isabell Werth und Jos Lansink, 2006 Weltmeister in Aachen, talentierten Jugendliche bei ihrem Karrierestart.
100 Jahre Aachen
In diesem Jahr wird das Turnier 100 Jahre alt, bescheiden angefangen auf der grünen Wiese, heute, nach wechselvoller Geschichte mit einem Weltkrieg, 15 Championaten, also Welt- und Europameisterschaften, ist es das größte Sportereignis Deutschlands, Weltfest des Pferdes, wie es die Veranstalter nennen. Das hat mit der Faszination des Sportes zu tun, der jedes Jahr die Aachener in die Soers zieht, manchmal 100.000 und mehr. Sie sind das Rückgrat des Turniers. Sie schaffen in der Soers eine Atmosphäre, die auch die Sponsoren-Millionen alleine nicht herbeizaubern könnten. Eine Ausstellung zum Geburtstag, in der Elisengalerie in der Stadt, dokumentiert das Geschehen in der Soers von den Anfängen 1924 bis heute.
Nicht alles war früher schlechter, dennoch: Mancher Fortschritt ist hoch willkommen. Anstatt uns um Kreidetafeln zu scharen, genügt uns jetzt ein Blick auf unser Handy, um zu erfahren, wer wann reitet, wer wo steht. Als Journalist genießt man Privilegien, die zahlenden Zuschauern nicht vergönnt sind. Wir können jederzeit die Reiter treffen, sie würden uns wahrscheinlich sogar Autogramme geben. Aber deswegen kommen wir ja nicht. Am Ende sind es die Pferde, von denen alles und alle leben. Halla, Meteor und Ahlerich in Ehren, aber die Nachfolger sind besser und schöner, springen geschickter oder piaffieren fleißiger. Auch wenn wir sie nicht mehr im Stall besuchen können, bleiben sie für uns die Hauptdarsteller des CHIO.
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