Es gibt viele Arten, Turniere zu veranstalten. Es gibt Aachen, das „Weltfest des Pferdes“ mit seiner bunten Flaggenparade, es gibt die Global Champions Tour, in die betuchte Sponsoren ihre Reiter einkaufen und um siebenstellige Geldsummen kämpfen lassen. Und es gibt Balve.
Man muss sich dem idyllischen Örtchen Balve im tiefsten Sauerland auf verschlungenen Wegen nähern. Selbst die Navis sind unschlüssig, welcher der richtige ist, denn zumindest meins zeigt mir jedes Mal einen anderen. Wenn man dann Schloss Wocklum erreicht hat, den Weg vom bergigen Parkplatz hinunter ins Tal geschafft hat beziehungsweise das Glück hatte, von einem der netten jungen Leute im Shuttle aufgegabelt zu werden, dann freut man sich, dass alles so ist wie im letzten Jahr und die Jahre davor.
Deutsche Meisterschaften im Springen und Dressur, haben seit langen Jahren ihre Heimat in Balve und auch weiterhin bis mindestens 2030. Einen neuen Vertrag haben die Veranstalter des „Balve Optimums“ soeben mit der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) abgeschlossen. Die Veranstalter, das ist im Wesentlichen die Familie der Grafen Landsberg auf Schloss Wocklum, repräsentiert von Rosalie Gräfin Landsberg und ihren drei Schwestern, den Töchtern des langjährigen Reiterpräsidenten Dieter Graf Landsberg-Velen, zusammen mit dem auf Wocklum beheimatetem Reiterverein. „Der Graf“, wie er von allen genannt wurde, hat seit 1948 hier Reitturniere veranstaltet, einer der ersten Plätze auf dem nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Reiter und Pferde um Schleifen kämpften. Seitdem hat die Familie Landsberg nicht nur unendlich viel Herzblut, sondern auch beachtliche Summen in die Anlage gesteckt, die sich heute hinter keinem internationalen Turnierplatz verstecken muss.
Viele große Turniere werden ja inzwischen von professionellen Agenturen durchgeführt, die heute in Europa, morgen in Arabien und übermorgen sonst wo operieren. In Balve sind Anfang Juni die ganze Familie und der Verein gefragt, jeder hat seine Aufgabe, Zettel hin und her tragen, Dienst am VIP-Counter, rote Teppiche ausrollen, Podeste aufstellen und wieder wegräumen und, und und. In diesem Jahr betrachtete der jüngste Landsberg-Spross, Franz Anton, der sechs Monate alte Sohn des derzeitigen Hausherrn Jakob Graf Landsberg, die Welt noch aus dem Kinderwagen. Aber nächstes Jahr könnte er sich schon nützlich machen, findet seine Mutter. Etwa einige der vielen Hunde bespaßen. Jeder fängt schließlich mal klein an.
Die Deutschen Meisterschaften im Springen sind so etwas wie ein Sprungbrett in die erste Reihe. In diesem Jahr gelang der Sprung dem neuen Meister Patrick Stühlmeyer. Als eine der besten Amazonen des Landes präsentierte sich Sandra Auffarth, die bei den Damen und im „gemischten“ Feld bei den Herren mitritt. Bronze bei den Amazonen, Sieg in der Ersten Herrenwertung, am Ende 15. – das war ein kleiner Vorgeschmack, was von der Vielseitigkeitsweltmeisterin 2014 und Olympiadritten 2012 zu erwarten ist, wenn sie erstmal ganz ins Springlager gewechselt ist. Das soll nach den Spielen von Paris passieren, ein Verlust für den Busch, aber ein Gewinn für Bundestrainer Otto Becker und seinen Beritt.
Zum ersten Mal waren in diesem Jahr die Para-Dressurreiter dabei, für sie war extra ein Stück des Weges gepflastert worden, um den Zugang zum Dressurviereck zu erleichtern. Wie überall begeisterten die Paras bei ihrer Meisterschaft, wie sie trotz diverser Handicaps ihr Leben im Allgemeinen und den Sport im Besonderen mit Energie und Leistungsfreude meistern, auf wunderbaren Pferden, die viele gerne hätten. Ein neues Highlight für Balve, gelebte Inklusion.
Überhaupt die Pferde. Ich kam zur Ehrenrunde der U25-Meisterschaft hinzu, ein Pferd schöner als das andere, allen voran der goldene KWPN-Fuchs Farrington von Semmieke Rothenberger. Was die Züchter hierzulande den jungen Leuten an Pferden anbieten, das dürfte in der Welt einmalig sein. Der Markt für solche Pferde, auf denen Weltkarrieren starten können, boomt. Unter sechsstelligen Summen läuft so gut wie nichts, habe ich mir sagen lassen.
Für die deutschen Dressurreiter führt der Weg nach Paris über Balve, die erste wichtige Sichtung. Als nächstes kommt das CHIO Aachen (28.6. bis 7.7.), danach steht fest, wer schon wenige Tage später ins Trainingslager in der Nähe von Paris reist.
In Balve ging es zunächst um die Aachen-Plätze, vier fürs CDIO-Team und weiter für die CSI-Tour. Jessica wurde ihrer Favoritenrolle mehr als gerecht. Das war hohe Reitkunst, die sie mit ihrer Dalera in Balve zelebrierte. Die Trakehner Stute ist 17 Jahre alt, nicht mehr jung, aber auch nicht zu alt, um sich erneut um olympisches Gold zu bemühen. Auch Bonfire von Anky van Grunsven und Gigolo von Isabell Werth straften ihr Alter Lügen, als sie in Sydney 2000 zu Gold und Silber tanzten. Beide waren 17, wie Dalera heute.
Doch die Karriere hinter ihr ist definitiv länger als die vor ihr. Das weiß natürlich auch Jessica. Ob Dalera das weiß, bleibt ihr Geheimnis, aber manchmal schien es, als wolle sie nochmal ihre ganze Kunst entfalten, damit dieses Bild in Erinnerung bleibt. So leicht flossen Reiterin und Pferd übers Viereck, in vollständiger Harmonie zu Klängen französischer Chansons, ließen sie die schwierigsten Lektionen kinderleicht aussehen. Die beiden schienen sich über geheime Antennen zu verständigen, keine sichtbare Einwirkung störte den Ritt. „Das ist das beste Gefühl meines Lebens, das ich hier hatte“, sagte Jessica anschließend. „Dalera gibt immer alles, und immer noch mehr“. Da konnte sie schon kaum mehr sprechen, die Stimme versagte, die Tränen rollten. „Der Ritt war heute besser als in Tokio“, bestätigt Chefrichterin Katrina Wüst. Sie muss es wissen, sie saß auch in Japan am Richtertisch.
Solche Tage sind selbst für Erfolgsverwöhnte selten. Auch in Balve leistete sich Dalera im Grand Prix zwei Patzer, stieg in der Piaffe kurz auf beide Hinterbeine und vertat sich einmal bei den Galoppwechseln. Im Special war sie häufig eng und hinter der Senkrechten. Aber in der Kür gab es eine dieser berühmten Sternstunden. Auch das genialste Pferd ist keine Maschine, wie beruhigend. Das Paar ist in 35 Prüfungen, seit Tokio 2021, ungeschlagen.
Jetzt gilt es, diese Form bis zum olympischen Auftritt im Park von Versailles zu konservieren. Bis dahin wird Dalera kein Turnier mehr gehen, sie ist für Olympia gesetzt. Wenn die Kollegen beim CHIO Aachen um die Paris-Startplätze kämpfen, wartet zuhause in Aubenhausen (Kreis Rosenheim) ein ausgeklügeltes Fitness-Programm auf Dalera, dazu gehören Waldspaziergänge und stundenweise Weidegang. Sie muss nichts mehr beweisen, sie muss nur gesund bleiben.
Eine Dalera in der Form von Balve wird in Paris schwer zu schlagen sein, aber die Konkurrenten sind schwer einzuschätzen. Die Briten werden gefährliche Gegner sein, in ihren Reihen die dreifache Olympiasiegerin Charlotte Dujardin und Charlotte Fry, die vor zwei Jahren mit dem imposanten Rapphengst Glamourdale in Herning Weltmeisterin wurde, als Jessica v. Bredow-Werndl entschuldigt fehlte: Sie brachte zeitgleich ihre Tochter Ella zur Welt. Von der Abwesenheit der Olympiasiegerin profitierten damals auch die Dänen, die vor den Deutschen Mannschaftsweltmeister wurden. Auch sie sind Olympiafavoriten. Selbst mit Jessica im Team muss das Gold, fest eingeplant vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), erst erkämpft werden. In Aachen wird entschieden, wer mitkämpfen darf.
Ob Olympia 2024 der letzte Wettkampf für Dalera sein wird, steht noch in den Sternen. Jessica v. Bredow-Werndl weist vorzeitige Spekulationen zurück: „Das entscheiden wir später, das bespreche ich in Paris, mit Dalera.“ Manche Kunstwerke überleben Jahrtausende, andere sind vergänglich. Leider gehört das Kunstwerk Pferd dazu.
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