Man nehme eine Leiter
von der Baustelle, das Dach eines Pferdetransporters und Stangen, an denen noch
der Matsch der Deutschen Vielseitigkeits-Meisterschaften klebt – fertig ist
eine Fotoproduktion, die SG-Redakteurin Kerstin Niemann und Fotograf Jacques
Toffi so schnell nicht vergessen werden.
Es ist sieben Uhr morgens und schon jetzt läuft uns der Schweiß nur so herunter. Wir sind auf dem Weg von Hamburg nach Luhmühlen ein Katzensprung, die Fahrt dauert noch nicht einmal lange genug, dass die Klimaanlage auf Touren kommt. In Luhmühlen treffen wir uns mit der Vielseitigkeitsreiterin Anna Siemer, 28, u.a. Mannschaftsgoldmedaillengewinnerin der Vielseitigkeit bei den Jungen Reitern, die uns bei einem ehrgeizigen Projekt helfen soll: Die Bahnfigur Schlangenlinien effektiv in Szene zu setzen.
Schlangenlinien reiten eigentlich ist das ein Thema, zu dem einem spontan einiges einfällt. Es gibt sie einfach, doppelt, durch die Bahn, entlang der Mittellinie, im Training mit S-förmigen Bögen, in der Dressuraufgabe dann gerader, es gibt sie im Trab und Galopp, im Arbeits- und versammelten Tempo. Puh, viel Thema für einen einzigen Lehrbeitrag. Viel zu sagen aber wie sollten wir gute Bilder dafür bekommen? Ganz einfach: Indem wir eine ungewöhnliche Perspektive wählen. Ganz einfach. Dachten wir…
Während wir nur im Landrover aufs Gelände fahren, brummt hinter uns schon der riesige Transporter unseres Models her ein über vier Meter hoher, rund zehn Meter langer Lkw, aus dessen Führerhaus die zierliche Anna Siemer herausspäht wie das Mäuschen aus dem Mauseloch. Sie hätte vom Ausbildungszentrum Luhmühlen auch zum Turniergelände reiten können aber wir brauchten unbedingt ihren Lkw für die Idee unserer ungewöhnlichen Perspektive. Denn das Dach des goldglänzenden Ungeheuers auf vier Rädern soll der Standort von Jacques werden.
Gesagt, getan, von der Baustelle ein paar hundert Meter entfernt schleppt Michael Meier, der die unzähligen Veranstaltungen des Ausbildungszentrums Luhmühlen unter einen Hut bringt, eine Leiter heran, und los gehts. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal auf dem Dach eines Pferdetransporters gestanden haben wenn Sie die Chance haben, verzichten Sie auf diese Erfahrung! Es mag so leichten Elementen wie Wasser oder Hagel standhalten, aber als Gewichtsträger ist so ein Dach ganz bestimmt nicht geeignet. Ungefähr im Abstand von einem Meter verlaufen stabile Streben die einzige Möglichkeit, dem Lkw aufs Dach zu steigen, ohne am Ende in dem mit Späne eingestreuten Ständern im Inneren des Transporters zu landen. Mutprobe Jacques Toffi und ich klettern beide aufs Dach, stellen uns breitbeinig auf und verbitten uns jegliche Kommentare oder Schnappschüsse von unten …
Anna, absoluter Profi, verkneift sich das Lächeln genau so stark, dass man es gerade noch erkennt und selbst ein Grinsen im Gesicht nicht verhindern kann. Sie sitzt im Sattel ihrer zehnjährigen Brandenburger Stute Charlotte v. Convoi und wartet auf ihren Einsatz. Ihr sagt, ich mach ruft sie uns munter von unten zu und kann nicht umhin, uns darüber aufzuklären, dass die Höhe, in der wir uns befinden, ungefähr dem Hamburger Derbywall entspricht. Aber bitte nicht runterspringen! Nee danke, ich bin froh, dass ich Jacques nach einigen Minuten dort oben seinem Schicksal überlassen kann. Denn ich muss noch Stangen schleppen. Es liegen zwar welche bereit Michael Meier war bestens vorbereitet aber weiße Stangen auf weißem Boden, das ist wenig wirkungsvoll. Möglichst kräftig sollten die Farben sein, am besten ein paar gleich aussehende Stangen, alle blau oder alle rot zum Beispiel. Bei der Menge an Material, mit dem vor knapp zwei Wochen der abschließende Springparcours der Deutschen Vielseitigkeitsmeisterschaft ausgestattet wurde, ist das natürlich kein Problem. Allerdings, Sie kennen das bestimmt: die schönsten Äpfel liegen im Obstkorb immer ganz unten… entsprechend lächeln mich die roten Stangen, die ganz tief unten unter rund 30 Ständern und Fängen auf einem riesigen Anhänger vergraben sind, am charmantesten an. Da hilft nur eins: Muskeltraining, nur nicht schlappmachen! Binnen zehn Minuten sind alle Hindernisse beiseite geräumt, die Stangen auf dem Platz verteilt und es kann losgehen.
Kreuz und quer reitet Anna mit Charlotte durch das sonnendurchflutete Viereck, auch bei der achten Schlangenlinie mit fünf Bögen bilden sich bei der Reiterin weder Schweißflecken am Rücken noch hektische Flecken im Gesicht Respekt, denke ich und grüble über meine eigene Kondition nach. Das Ergebnis: kein Kommentar…
Anna trabt und galoppiert über die im Schweiße meines Angesichts auf den Platz geschleppten roten Stangen, durch Gassen, an bunten Hütchen vorbei, und auch nach über zwei Stunden trällert sie uns immer noch fröhlich entgegen: Ihr sagt, ich mach! Jacques ist in seinem Element, hantiert auf dem Lkw-Dach kniend mit drei Kameras gleichzeitig, der Funke ist übergesprungen. Anna, bitte noch einmal, tönt es aus der Luft, und Anna lächelt und zieht eine, zwei, drei, vier weitere Runden.
1700 Fotos später kraxelt Jacques vom Dach herunter, es hat zum Glück standgehalten. Waren wir erfolgreich?, fragt er mich einige Stunden später, als ich am Computer sitze und seine Arbeit fürs Heft sortiere. Mein Ja entlockt ihm ein Lächeln, das ich durchs Telefon quasi fühlen kann. Vergessen sind das Aufstehen bei Sonnenaufgang, die flimmernde Hitze, das Schleppen von Baustellenleitern und Ausgraben der roten Stangen. Wir waren erfolgreich. Finde ich.
Den Beitrag Schlangenlinien finden Sie in der August-Ausgabe des ST.GEORG ab 27. Juli im Handel.
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