In 21 Tagen ist es soweit: In Versailles werden die Medaillen im Springen verteilt. Nur einem Reiter gelangen bisher zwei olympische Einzelsiege, das Rennen ist völlig offen. Von Springreiter-Olympiasiegern aus 124 Jahren handelt ein neues Buch des Schweizer Journalisten Alban Poudret, es erzählt die Geschichte, die hinter jedem Olympiasieger steht, dramatische Momente, von denen viele ein Reiterleben verändert haben.
Es sind noch genau 21 Tage, dann wird mittags um zwölf in Versailles dem neuen Olympiasieger der Springreiter die Goldmedaille umgehängt. Es ist zugleich der Abschluss der olympischen Reitwettbewerbe, danach übernehmen die Fünfkämpfer den königlichen Park, zum letzten Mal ist die Disziplin Reiten Teil des Pentathlons. Zum Glück, Bilder wie in Tokio, mit einer überforderten Reiterin und einem verstörten Pferd, kann der Reitsport gar nicht gebrauchen.
Wetten auf den Springreiter Olympiasieger könnten hohe Quoten geben, mehr als einem Dutzend Reitern ist der Sieg zuzutrauen, wenn am richtigen Tag alles passt und das gütige Schicksal seine Hand im Spiel hat. Oder auch eine höhere Macht. Davon zumindest ist Ludger Beerbaum überzeugt, wie er meinem langjährigen Schweizer Kollegen Alban Poudret in einem Interview für einen Prachtband über die Springreiter-Olympiasieger verriet. Für Beerbaum gilt das wie für kaum einen anderen. Jeder Auftritt des sechsfachen Olympiateilnehmers, Gewinner von vier Goldmedaillen, hatte sein eigenes Drama.
1988 in Seoul musste er nach Lahmheit seines Pferdes Landlord kurzfristig auf das Ersatzpferd The Freak umsteigen, ehemals erfolgreich unter Hugo Simon, jetzt aus dem Stall Dirk Hafemeister. Auf The Freak hatte Beerbaum nach eigenen Angaben vorher nie gesessen. Mit einem Null- und einem Vierfehlerritt legte der 24–Jährige Beerbaum für das deutsche Teamgold vor. Vier Jahre später, 1992 in Barcelona, riss im Nationenpreis das Hackamore der Holsteiner Stute Classic Touch, Beerbaum verließ mit seinem Pferd an der Hand zu Fuß den Parcours und war dennoch zwei Tage später Olympiasieger. Das Pech vom Nationenpreis wurde durch Glück kompensiert: Da er im Einzelspringen erst spät startete, war der durch einen morgendlichen Wolkenbruch unter Wasser gesetzte Boden wieder abgetrocknet. Andere wie der holländische Mitfavorit Jos Lansink mussten sich durch Pfützen kämpfen, sein Pferd Egano verstand die Welt nicht mehr und blieb stehen.
1996 in Atlanta sicherte Beerbaum erneut, diesmal mit Ratina, der Silbermedaillengewinnerin von 1992, mit einem Doppelnuller das Gold für die deutschen Springreiter, die sich quasi an den Haaren selbst aus dem Sumpf ziehen mussten: Franke Sloothaak war im ersten Umlauf mit Joly Coeur gestürzt und ausgeschieden, blieb im zweiten fehlerlos. Aber am Tag des Einzelspringens stand Ratina lahm im Stall. „Sie war damals das schnellste Pferd der Welt“, sagt Beerbaum. Damit war er hoher Favorit für einen zweiten olympischen Einzelsieg. Die höheren Mächte wollten es anders.
Auch das Mannschaftsgold von Sydney 2000 verlief für Beerbaum dramatisch: In jeder Nationenpreisrunde kassierte er vier Abwürfen des noch relativ unerfahrenen Goldfevers – Streichergebnis. Diese Goldmedaille wurde ihm quasi von seinen drei Mitstreitern geschenkt, und das kann einem Leitwolf wie Beerbaum schon wurmen.
Vier Jahre später in Athen sah alles wieder glanzvoll aus. Mit einer Doppelnullrunde von Goldfever trug Beerbaum erneut zum Mannschaftssieg bei. Das böse Erwachen kam vier Wochen später. Eine Salbe, mit der Goldfever behandelt worden war, verursachte einen Medikationsfall und den Verlust der Mannschafts-Goldmedaille. Das Team bekam später die Bronzemedaille, Ludger Beerbaum nichts. Hongkong 2008 war enttäuschend, keine Medaille, nur Teamplatz fünf, Einzel Rang sieben. Erst 2016 in Rio war das Glück Beerbaum wieder hold. Mit der entscheidenden Nullrunde im letzten Mannschaftsumlauf auf Casello rettete er die Bronzemedaille, ein grandioser Abschluss seiner Karriere als Nationenpreisreiter.
Die meisten Olympiasieger, vor allem die nach 1948, haben über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte den Sport mitgeprägt. Eintagsfliegen waren selten, anders als bei Welt- und Europameisterschaften, wo schon mal einer oder eine oben auf dem Treppchen stand, die später im sportlichen Nirwana verschwanden. Nur ein Reiter wurde zweimal mit olympischem Gold gekrönt, der Franzose Pierre Jonquères d’Oriola. Er betrieb nahe den Pyrenäen ein Weingut, und war einer der feinsten und elegantesten Springreiter seiner Zeit, dazu hocherfolgreich. Bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki siegte er mit dem Angloaraber Ali Baba, einem Armeepferd, das ihm nur für Turniere zur Verfügung gestellt wurde, er durfte ihn nicht zuhause trainieren. So was funktioniert wohl nur mit einem Genie wie d’Oriola.
16 Jahre später wiederholte er seinen Olympiasieg mit dem Furioso xx-Sohn Lutteur, der als Anglo-Normanne bezeichnet wurde, heute Selle Français. Lutteur hatte eine Trabermutter und er war nicht der einzige Olympiasieger mit Traberblut. Da ist erstmal die legendäre Halla, Siegerin 1956 unter Hans-Günter Winkler, Tochter des Trabers Oberst, und Jappeloup, der kleinen Rappe des Franzosen Pierre Durand, Olympiasieger 1988. Vier Jahre zuvor in Los Angeles, als das Paar aus Frankreich noch unerfahrener war, hatte sich der Reiter nach einem Steher auf dem Boden wiedergefunden, das Zaumzeug noch in der Hand. So kann’s gehen, never give up.
Der Erfolg von Lutteur gab den Anstoß, dass sich auch deutsche Zuchtverbände um „Franzosenblut“ bemühten, Furioso xx nahm bekanntlich über Furioso II und Futuro einen großen Einfluss auf die hiesige Springpferdezucht, die bis heute wirkt, Stichwort For Pleasure, ein Stempelhengst in mehreren Zuchtgebieten. Im vergangenen Jahrhundert führten viele vierbeinige Olympiasieger sehr viel mehr Vollblut als heute. Snowbound unter William Steinkraus (USA), der Sieger von 1968, war ein reiner Vollblüter, wie auch Touch of Class von Joe Fargis (USA) in Los Angeles 1984. Die US-Reiter auf ihren herrlichen langbeinigen Blütern siegten auf allen großen Plätzen. Ich frage mich manchmal, wo sie geblieben sind im heutigen Sport. Der letzte seines Schlages war wohl Gem Twist von Greg Best, Vizeweltmeister 1990. Von dem gibt es immerhin einen Klon.
Das Buch von Alban Poudret mit dem Titel „Champion, le jour JO“ erzählt viele Geschichten von den Männern (bisher noch keine Frau), für die der Lebenstraum vieler Reiter, der Olympiasieg, wahr wurde, es erzählt Geschichten, die fast vergessen sind, es informiert, erklärt und ist reichhaltig bebildert, darunter viele Fotos, die man noch nie gesehen hat. Es hat nur zwei Fehler: Es ist bisher nur auf französisch zu haben und kostet 89 Euro. Aber für Freaks lohnt sich, die Restsprachkentnisse aus der Schule hervor zu kramen und einmal tief in die Tasche zu greifen.
Hier die Infos auf der Webseite
Bestelladresse: Pro-Cheval/Le Cavalier Romand
Route du Port 24
CH-1009 Pully-Lausanne (Schweiz)
0 Kommentare
Schreibe einen Kommentar