Moment Mal – Die ganz alltägliche Gemeinheit

Von
Moment mal_Gabriele Pochhammer

Gabriele Pochhammer, Herausgeberin St.GEORG (© Toffi)

Wer in der Dressur sein Pferd mit der Nase hinter der Senkrechten vorstellt, kriegt bessere Noten. Das ist – sehr vereinfacht – das Ergebnis einer Studie der Verhaltensbiologin Kathrin Kienapfel. Sie wirft viele Fragen auf, um die Antworten sollte sich der Dressursport schleunigst kümmern.

Regeln sind dazu da, eingehalten zu werden, sonst funktioniert der Sport nicht und nicht nur der. Verletzungen der Regeln müssen sanktioniert werden, sonst sind sie überflüssig. Eigentlich Binsenwahrheiten. Eine Regel des FEI-Dressurreglements wird seit Jahren missachtet, manchmal wird über sie gestritten, aber sehr oft wird einfach nichts unternommen, ihre Missachtung bestenfalls ignoriert und manchmal sogar belohnt. Es geht um die Vorschrift, dass sich die Nasenlinie des Pferdes an der Senkrechten, besser noch etwas vor der Senkrechten befinden soll.

Das hat seinen Grund: Das Pferd kann freier ausschreiten, es kann sich so bergauf bewegen, wie man es in der Dressur sehen will. Das ganze Bild wird schöner und erhabener. Das geht nicht, wenn die Nase Richtung Brust gezogen wird – das war der Anfang der Rollkur-Diskussion, die der St.GEORG im Jahre 2005 angestoßen hat. Seitdem hat sich einiges getan, die „Hyperflexion“ wie diese Methode etwas wissenschaftlicher genannt wird, gilt als aggressives Reiten und ist schon lange offiziell verboten. Auf dem Papier.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht um Formalismus, nicht darum, Pferde in eine Schablone zu pressen. Natürlich kann im Laufe der Ausbildung auch mal die Nase einen Moment hinter die Senkrechte kommen, solange das Pferd losgelassen bleibt und die Hand fein. Und eine Nase vor der Senkrechten ist noch kein Garant für ein gut gehendes Pferd, das lehren uns (häufig ältere) Bilder von Pferden, deren Nase zwar vorne, aber der Rücken fest ist. Es geht ums Augenmaß, und darum, wie wohl sich das Pferd fühlt. Und das Pferd, das leicht vor der Senkrechten geht, dabei losgelassen und vertrauensvoll, bleibt das Ideal.

Pferde, die nicht nur auf dem Abreiteplatz, sondern auch in der Prüfung häufig hinter der Senkrechten gehen, werden von den Richtern kaum sanktioniert, sondern oft genug mit hohen Noten belohnt. Das ist das Ergebnis einer Studie von Kathrin Kienapfel, die kürzlich in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Applied Animal Behaviour Science erschienen ist.

Die promovierte Biologin mit Schwerpunkt Verhaltensbiologie des Pferdes, hat beim Grand Prix Special des CHIO Aachen in den Jahre 2018 und 2019 Studien an 49 Dressurpferden vorgenommen, einmal auf dem Abreiteplatz, zum anderen in der Prüfung. Die Spitzengruppe gehörte zu den Top Ten der Weltrangliste.

Gemessen wurden drei Winkel, unter anderem der zwischen Hals- und Nasenlinie. Das liegt zwar schon einige Jahre zurück, aber solange habe es gedauert, bis die Studie alle Kontrollstationen der wissenschaftlichen Gremien durchlaufen habe und zur Veröffentlichung freigegeben wurde, so Kienapfel.

Die Studie stellt fest, dass Pferde, die auf dem Abreiteplatz extrem eng und tief geritten wurden, häufiger unzufrieden wirkten, abzulesen an unruhigem Maul, Schweifschlagen bis hin zu offener Widersetzlichkeit. Was uns natürlich nicht wirklich wundert, aber all dem Gerede vom „happy Athlete“, dem „glücklichen Athleten“ Hohn spricht. Zwar wurden die meisten Pferde in der Prüfung dann weniger eng vorgestellt, aber häufig kamen sie dennoch immer wieder hinter die Senkrechte.

Auf diesen Pferden saßen nach den Untersuchungen von Kathrin Kienapfel häufig Reiter aus der Spitzengruppe, die mit besonders hohen Noten bedacht wurden, natürlich nicht wegen, sondern trotz der engen Haltung. Also wirkte sich die fehlerhafte Haltung in der Regel nicht auf das Ergebnis aus, eher im Gegenteil. „Je mehr die Pferde im Wettkampf die Nase hinter der Senkrechten hielten, desto höher war die Wahrscheinlichkeit einer guten Platzierung“, folgert Kienapfel. Sie sieht durch diese Praxis den Tierschutz bei Spitzendressurprüfungen in Gefahr.

Im Jahre 2022 wollte sie ihre Studie durch weitere Datenerhebung beim CDI Compiegne (Frankreich) ergänzen. Was die Kamera aufzeichnete, erschreckte sie. Das Abreiten war noch weniger pferdefreundlich als auf den Aachen-Bildern, zum Teil zehn Minuten lang. „Es wurde mit starker Hand- und Beineinwirkung geritten, weder Stewards noch Richter griffen ein“, so Kienapfel. Sie spricht von „besorgniserregenden Videos“.

In Gesprächen mit Dressurexperten bekam sie wortreiche Beteuerungen über das Wohl des Pferdes zu hören, das über allem stehe, aber auch die immer wieder vorgebrachte Ausrede, dass der Richter schließlich nicht wissen könne, was auf dem Abreiteplatz vor sich geht.

Das stimmt natürlich. Aber wenn der Pferdesport, in diesem Fall die Dressur, eine Zukunft haben soll, dann darf es nicht bei verbalen Beteuerungen bleiben. Regeln müssen angewendet werden, egal wie prominent der Reiter im Viereck gerade ist. Und zu den Regeln gehört eben auch die Nase an oder vor der Senkrechten.

Es ist wenig hilfreich, wenn diejenigen, die darauf hinweisen, als Pedanten hingestellt werden, als Leute, die penibel mit dem Lineal nachmessen, ha, ha. Muss man nicht: Jedes Pferd wird schöner, wenn es die Nase nur ein wenig vornehmen darf, da braucht man kein Lineal.

Wenn die geschilderten Szenen auf dem Abreiteplatz so schlimm sind, wie mir von Kathrin Kienapfel geschildert – sie hat mir keine Bilder zur Verfügung gestellt, um die Anonymität der Reiter zu wahren – darf es kein Wegsehen mehr geben.

Offenbar ist ein gewisser Gewöhnungseffekt bei den Richtern eingetreten: wenn ein großer Teil der Pferde so geht, fällt das fehlerhafte Gesamtbild eben nicht mehr auf. Oder, noch schlimmer, viele Richter wissen gar nicht mehr, wie ein richtig ausgebildetes Pferd gehen muss. Wenn sie es denn je wussten. Oder sie sind zu beschäftigt mit Schritte-, Tritte- und Sprünge-Zählen.

Die Entrüstung über kriminelle Tierquälereien, wie etwa im Stall Parra, reicht nicht. Die ganz alltägliche Missachtung des Pferdewohls macht den Dressursport kaputt. Sie muss aufhören, sofort und nicht nur mit Worten.

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Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

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  1. berndride

    Die Diskussion über Kopfhaltung ist irreführend. Die ist nur ein sekundäres Symptom von verstärkter Kontrolle. Primär bekommt man gute Noten durch ausdruckvolle Gänge. (und wenig Fehler)

    Dafür setzen die Reiter die Pferde unter Druck um möglichst viel Kraftentfaltung zu erreichen. Leider regen sich die Pferde dadurch auf, zumal in der Prüfungssituation.
    Daher muss der Reiter mehr Kontrolle ausüben und zieht mehr am Zügel. In der Folge macht sich das Pferd eng in Hals. Durch die niedrigere Kopfhaltung wird das Geischtsfeld, und mithin die Ablenkung, eingeschränkt, also die Kontrolle verstärkt.

    Immerhin, der Reiter erzielt mit mehr Ausdruck im Gang eine gute Note. Natürlich würde er eine noch bessere Note erzielen, wenn er das alles ohne die verstärkte Kontrolle erreichen könnte und bei vielen Spitzenpferden sieht man das auch, aber bei expressiven Gängen gibt es höhere Noten als bei zwar losgelassenen, in korrrekter Haltung, aber nicht so expressiv, gehenden Pferden.

    Solange das so ist, wird so geritten. Ein Sportler versucht zu gewinnen, das ist seine Aufgabe.

    • ACS

      Ja, ähnlich sehe ich das auf. Wieder die Diskussion auf die reine Kopf-Hals-Haltung zu beschränken, hilft uns nicht weiter.
      Das ganze Pferd muss betrachtet werden und ob es Zufriedenheit ausstrahlt, sollten die Richter auf dem Niveau (Grand Prix und höher) mindestens erkennen können. Vielleicht schon zu viel erwartet?

  2. Karin

    Wahre Worte, Frau Pochhammer! Ich kann Ihnen nur auf ganzer Linie zustimmen. Wie weit das Bild des hinter der Senkrechten gehenden Pferdes bei Turnier- wie Freizeitreitern schon für völlig normal gehalten wird, zeigen ja auch beispielsweise Titelseiten von Reitsportbedarf-Katalogen. Und niemand hat daran offenbar etwas auszusetzen, sonst sähe das nicht immer wieder so aus.

  3. Fähnleinimwinde

    Clever, dass Frau Pochhammer ihren Kommentar zum auf dem Abreitaplatz gemachten Video von Rath auf Thiago schnell wieder gelöscht hat (oder kann nur ich den nicht mehr finden?) – da klang das alles noch ganz anders…


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