Noch heißt es Deauville statt Versailles, doch nicht mehr lange. Herausgeberin Gabriele Pochhammer hat die deutschen Vielseitigkeitsreiter im Trainingslager an der französischen Nordküste besucht.
Sie haben sich gut versteckt, unsere deutschen Buschis, um sich auf das Unternehmen „Olympia“ einzuschwören. Wie fast alle Häuser und Höfe in der Normandie ist auch die „Domaine de la Chapelle Saint Richer“, eine halbe Stunde von Deauville entfernt, hinter hohen Hecken und zwei fest geschlossenen Toren verborgen, von der Straße aus nicht zu sehen. Früher ein guter Schutz vor marodierenden Soldaten, heute vor neugierigen Journalisten.
Ich stehe ein bisschen ratlos vor dem Gittertor, bis eine junge Frau hinter mir hält, die auch rein will. Sie ruft mir eine Jahreszahl zu, der Code fürs Tor, das sich prompt aufschiebt. Als erstes fällt mir ein riesiger roter Pferde-LKW plus Anhänger mit der Aufschrift „Fischer“ auf. Hier bin ich also richtig, das Gefährt des Stalles Jung, auch wenn Chipmunk sein vorgeschraubtes „Fischer“ für Olympia ablegen musste – so wollen es die strengen IOC-Regeln.
Für knapp eine Woche trainieren hier die deutschen Buschreiter für Versailles. Fünf Pferde mit ihrem Tross aus Reitern, Pflegern, Familie und Funktionären, fünf Luxusliner. Nicht nachhaltig, aber sehr praktisch, denn ich habe mir sagen lassen, die Mega-LKW sind zur Hälfte als kleine Wohnungen eingerichtet. Das spart das Hotel, also doch wieder nachhaltig, wenigstens fürs Portemonnaie. Kaum bin ich auf der Anlage, gerade werfe ich einen Blick in die phantastische Halle, Maße geschätzt mindestens 60 mal hundert Meter, da ruft mich Bundestrainer Peter Thomsen an. „Wenn du schnell bist, kannst du Michi noch galoppieren sehen“, sagt er. „Wir stehen hier oben auf dem Berg.“ Schnell ist relativ und als ich bei den Gestalten in den bekannten roten Polohemden der deutschen FN angekeucht komme, sehe ich gerade noch Michi Jung mit Chipmunk auf dem leicht ansteigenden Track vorbeigaloppieren, zulegen und wieder aufnehmen, beide offenbar bestens in Form. „Es nützt ja nichts, nur im 800 Meter-Tempo loszugaloppieren, man muss ja auch schnell das Tempo drosseln können“, erklärt mir Vater Jung. Klar, das nächste Hindernis kommt bestimmt. Wieder was gelernt. Die Bodentruppe sieht zufrieden aus: Peter Thomsen, Springtrainer Markus Döring, Geländetrainer Rodolphe Scherer, der die von ihm konzipierte Trainingsanlage für die Olympiavorbereitung organisiert hat, der Ausschussvorsitzende Prof. Jens Adolphsen, und Mannschaftstierarzt Dr. Matthias Niederhofer, ganz entspannt. Kein unsicherer Kandidat dabei, alle Pferde top in Schuss, versichert er mir mit großem Nachdruck. Kein tägliches angsterfülltes Vortraben. Das hatten wir ja auch schon anders, ich sage nur Rio 2016. Daumen halten, dass es so bleibt.
Die Anlage und ihr Besitzer
Den Berg herauf kommen zwei Herren, der eine der Tierarzt der benachbarten Klinik, der das Training mit Interesse beobachtet, der andere ist Monsieur Stephane Brabant, der Eigentümer der Anlage. Mit ihr, so ist unschwer zu erkennen, hat sich der 67-jährige Anwalt mit Hilfe von Rodolphe einen Kindheitstraum erfüllt. Erst mit Anfang 50 begann er intensiv zu reiten, sogar in Vielseitigkeitsprüfungen zu starten, erzählt er mir. Die Trainingsanlage ist erst ein paar Jahre alt, vieles aus Holz, die Gebäude, die Zäune, auch die Tore. Nicht protzig, sondern solide und funktionell und deswegen schön. Sie hat Platz für 47 Pferde, denen genauso viele Paddocks zur Verfügung stehen, für jedes Pferd einen, auf allen gibt es fließendes Wasser. Auf einem steht das Reitpferd von Stephane Brabant, von Kopf bis Schweif eingehüllt in Decken, wegen der Fliegen. Seine Mutter ist eine Selle Francais-Stute, die immer übergroße Fohlen brachte, bis sich der Züchter entschloss, es mit einem Ponyhengst zu versuchen. Und voilà! Ihr Sohn ist ein ganz normaler Zeitgenosse von etwa 1,65 Stockmaß, den Stephane Brabant noch jeden Tag bewegt.
Die Reiter wohnen in dem einzigen alten Gebäude auf dem Hof, einem Gutshaus mit den typischen senkrechten Balken vieler Normannenhäuser. Und hier leben sie nun in einer Art Olympia-WG. Das Musikzimmer wurde zum Physio-Studio mit Massage-Liege umfunktioniert, die alte Küche mit den dicken Holzbalken ist der Treffpunkt. Gerade ist Frühstück angesagt. Brigitte Jung kocht Kaffee, jeder holt sich, was er möchte, Käse, Schinken, Obst, Baguette. Mutter der Kompanie und zuständig für die Versorgung der Truppe ist Kirsten Thomsen, Peters Frau. Das soll sie schon als Studentenreiterin ganz toll gekonnt haben, erfahre ich aus eingeweihten Kreisen. Sie kauft nicht nur ein, sondern denkt sich aus, was man noch unternehmen könnte, damit sich keiner langweilt. Schließlich sind alle Reiter gewohnt, zig Pferde am Tag zu reiten und jetzt haben sie gerade mal eins dabei. Da bleibt für die Pfleger viel Zeit mit den Pferden spazieren zu gehen oder sie an der Longe grasen zu lassen.
Trainingsalltag
Sandra Auffarth ist für heute fertig mit der Arbeit von Viamant de Matz. Sie hat allen Grund auf Wolke sieben zu schweben, als frische Gewinnerin des Fünf-Sterne-Grand Prix in Falsterbo. Das muss ihr erstmal einer nachmachen. Auf dem Weg zum Reitplatz komme ich am Longierzirkel vorbei, Christoph Wahler bewegt seinen Carjatan, ganz locker ohne Stress. Der Schimmel hat gestern galoppiert, Dienstag wird noch mal Dressur geritten, bevor es nach Versailles geht. Familie Wahler kommt nach. „Alle“, sagt Christoph, „Vater, Mutter und Freundin“. Nur der anderthalbjährige Carl bleibt zu Hause. „Der hat noch nichts davon, der schläft noch nicht richtig durch“. Also nichts für die Nerven eines jungen Vaters unter Olympiastress.
Dressurtrainerin Anne-Kathrin Pohlmeier ist unten auf dem Reitplatz, wo Julia Krajewski mit Nickel ihre Runden zieht. Die Olympiasiegerin von 2021 hat hier den schwierigsten Job: Damit sie starten kann, was ja wohl jeder im Dunstkreis des olympischen Feuers will, müsste erst ein anderer ausfallen, und das wünscht niemand irgendjemandem.
Als Fünfter ist Calvin Böckmann dabei. Nach seinem zweiten Platz in Aachen in schnellster Zeit durfte der 23-Jährige mit in die Normandie reisen, allerdings darf er nicht mit den anderen am Mittwoch auf die Olympiaanlage umziehen. Bis zu zwei Stunden vor der ersten Verfassungsprüfung kann er noch eingetauscht werden, weswegen er in der Nähe von Versailles in einer Reitanlage in Jardy einquartiert wird, um notfalls noch zum Einsatz zu kommen. „Dort haben fast alle Nationen ihre Reservepferde stehen“, sagt Peter Thomsen. Mentale Verstärkung bekommt Calvin von seiner Mutter Simone, einst hocherfolgreiche Vielseitigkeitsreiterin. 1988 wurde sie mit dem Oldenburger Bantu als erste Frau Deutsche Meisterin. Calvin ist nachmittags mit seinem Fuchs The Phantom of the Opera auf dem Dressurviereck dran, sieht alles gut aus. Die Olympiaaufgabe ist wirklich schwierig, gehobene M-Dressur, und wie ich finde, nicht sehr geglückt. Im Mittelpunkt bei den Erfindern stand die Zeitersparnis, das ganze Starterfeld muss an einem Tag durchgezogen werden, das geht notgedrungen auf Kosten der harmonischen Abfolge, kein noch so kleiner Fehler kann ausgeglichen werden. Aber sportliche Gesichtspunkte haben ja nicht unbedingt Priorität bei den FEI-Oberen.
Die Reiter ziehen bekanntlich nicht ins olympische Dorf, weil es am ganz anderen Ende von Paris liegt, sondern in ein Tagungshotel von Lidl. Das dürfen sie aber nicht sagen, weil das Werbung für Lidl wäre und dann ärgert sich Edeka, einer der Olympiasponsoren. So die Instruktion von oben, es soll sogar schon Beschwerden gegeben haben. Da ist man doch froh, dass man wenigstens als Journalist die Dinge beim Namen nennen darf.
Liebe Frau Pochhammer,
danke für den ausführlichen und anschaulichen Bericht. Wie schön, dass Sie uns wieder auf diese Reise mitnehmen 🙂