Olympia-Blog Paris 2024 #5: Viele Wege führen zum Gold

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Olympic Games 2024

St.GEORG Herausgeberin Gabriele Pochhammer berichtet in ihrem Blog täglich von Olympia 2024 aus Paris. (© Pauline von Hardenberg)

Das Gelände von Paris – schön und herausfordernd. Kursbauer Pierre le Goupil hat die Journalisten durch den von ihm erdachten Cross geführt.

Ich habe schon einige olympische Geländestrecken gesehen, aber die in Versailles, die ist die schönste. Das liegt natürlich zum einen am Schloss des Sonnenkönigs, das riesig und majestätisch, mal ferner, mal näher auf einer Anhöhe thront und das Gewusel zu seinen Füßen entlang des Grand Canal gelassen zu betrachten scheint. Die Spaziergänger am Ufer, die kleinen Miet-Bötchen, die auf dem Wasser gaukeln, sind da, als ob nichts wäre, als ob nicht Paris im olympischen Fieber taumelte. Am Geländetag am Sonntag haben zumindest die Bötchen Schwimmverbot, aber die Sonnenanbeter dürfen bleiben. Das hätte vermutlich sonst auch eine neue Revolution gegeben, der Garten Ludwigs XIV. wurde längst vom Volk übernommen.

Parcoursdesigner Pierre le Goupil musste vielerlei Rücksicht nehmen, bevor er sich an die bisher größte Aufgabe seines Lebens machen konnte, die Gestaltung der olympischen Geländestrecke aus dem Nichts. Kein einziges Hindernis war vorhanden, und in wenigen Wochen werden alle Spuren des Cross wieder verschwunden sein. Das war die Bedingung. Ein Kunstwerk mit kurzer Laufzeit also.

Pauline von Hardenberg

Gabriele Pochhammer durfte bereits gestern den Geländekurs in Versailles besichtigen. (© Pauline von Hardenberg)

Gestern Nachmittag nahm sich Pierre drei Stunden Zeit, um uns, etwa 15 Journalisten, die Strecke zu zeigen und zu erklären. Wir wurden in drei offenen Geländewagen von Punkt zu Punkt kutschiert, gut für die weniger Wanderlustigen in unseren Reihen. „Ich versuche zu erzählen, was ich mir gedacht habe“, sagt er, „das könnte natürlich auch Wochen dauern.“ Jetzt muss es ein bisschen schneller gehen. An ihm besonders wichtigen Punkten halten wir an. Der erste Eindruck: Da hat einer ganz viele Ideen gehabt, aber sich nicht zu Protz und Pomp oder kitschigen Spielereien verleiten lassen. Die Strecke ist 5249 Meter lang, enthält 28 Hindernisse mit mindestens 42 Efforts. Es können auch mehr werden, je nachdem für welchen Weg sich der Reiter entscheidet. Es gibt nämlich an manchen Hindernissen ziemlich viele. Breite Tische zwischendurch, ich habe ungefähr sechs gezählt, fragen auch reelles Springvermögen ab. Drei Wasserhindernisse, mehrere Wälle und gut ausgenutzte natürliche Bodenunebenheiten sollen der Strecke das Flair des klassischen Cross Country-Kurses geben.

Sprung zwei, auf den ersten Blick ein gewisses Durcheinander von Holzteilen, ist all denen gewidmet, die durch handwerkliche Arbeit die Strecke erst möglich gemacht haben. „Der Designer wäre ohne die Leute, die am Ende die praktischen Arbeiten machen, Erdarbeiten, Schreinerarbeiten, Gärtner, nicht viel wert“, sagt Pierre. Der Anblick der zerstörten Kirche Notre Dame habe bei diesem Sprung Pate gestanden.

Bei der Gestaltung der Strecke saßen ihm die Hüter des Parks, die Parkverwaltung und der Denkmalschutz, ständig im Nacken. Immer fürchteten sie, dass ihr Park verändert oder entstellt würde. Manches brauchte erhebliche Überredungskünste, erzählt Pierre, immer neue Meetings und viele Skizzen. Zum Beispiel der Hinderniskomplex 5/6. Eine historische Teichanlage, umgeben von Treppen und Mäuerchen, die schon lange auf der Renovierungsliste stand. Jetzt entstand für den Betrachter ein anmutiger Wassergarten mit Hecken und einer Fontäne in der Mitte. Für die Reiter, weit weniger romantisch, wartet hier die erste Denksportaufgabe. Wo springt er rein, wo springt er raus, welche der vielen Buschhecken, sehr schmal, nicht ganz so schmal, soll er nehmen? Den Plan sollte er vorher im Kopf haben, sonst wird’s kompliziert.

Pauline von Hardenberg

Kursdesigner Pierre le Goupil demonstriert das Sicherheitssystem MiM. (© Pauline von Hardenberg)

Gleich hinter dem Wasser wartet ein „gemimter“ Steilsprung, einer von circa zehn, wie Pierre sagt. Was aussieht wie eine schmale Mauer, ist eine Holzkonstruktion, die im oberen Drittel bei heftigem (?) Anstoßen mit einem Scharnier nach hinten klappt. Das kostet den Reiter bekanntlich elf Strafpunkte. Die Mims sollen schwere Stürze verhindern, aber sie bieten sich auch an, als neue Fehlerquelle das Feld auseinander zu ziehen. Der erste Schritt zum Gelände-Parcoursspringen?

Viel Zeit zur Erholung bleibt nicht, es folgt ein kraftfordernder Wallaufsprung, oben auf der Kante wartet nicht nur ein schräg gestellter Birkenoxer, sondern auch eine grimmig dreinblickende Tiergruppe: Bär, Löwe und Wolf, folgend einer Fabel von Jean de la Fontaine. Ein bisschen Kultur muss sein.

Pauline von Hardenberg

Hindernis Nummer sieben des Geländekurses bei Olympia 2024: ein Wallaufsprung. (© Pauline von Hardenberg)

Regel ist Regel

Jetzt muss unsere Reise kurz unterbrochen werden. Wir wollen ein Stück zurückfahren auf dem Weg, den wir gekommen sind. Aber so einfach geht das natürlich nicht. Ein Sicherheitsmensch verlangt nicht nur unsere Akkreditierungen zu sehen, sondern will uns auch flughafenmäßig auf Sprengstoff scannen – obwohl wir vor genau einer Minute an ihm vorbeigefahren sind. Kein Mensch kann so schnell ein paar Bomben einpacken! Aber Regel ist Regel – selbst Pierre als Chef der Hindernisse wird nicht einfach durchgewinkt.

Auch das zweite Wasser auf einer großen Wiese hinter dem Wald, TV-gerecht freigestellt und attraktiv dekoriert mit einem kleinen Turm und allerlei Mauerwerk, erfreut das Auge des Betrachters und fordert den Kopf des Reiters. Viele Einsprung- und Aussprungmöglichkeiten. „Zig Varianten“, freut sich Pierre. „Die Reiter können’s machen, wie sie wollen.“ Fast, solange sie wissen, dass weiß links und rot rechts ist.

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Einer der vielen Tische, die auf dem Weg zu olympischem Gold zu überwinden sind. (© Pauline von Hardenberg)

Zwei mächtige zueinander versetzte Tische sollen verhindern, dass die Reiter nach den Burggräben ihre Pferde laufen lassen. Auf dem einen hat ein Riese ein paar Bücher vergessen, Descartes, Voltaire und Diderot steht auf den Rücken.

Dann geht es eine Weile am Grand Canal entlang, dann zurück in den Wald. Dort warten zwei Tiefsprünge, zwischen denen sich die Reiter entscheiden müssen. Einmal rechts sehr tief hinunter, dafür nur eine schmale Buschhecke unten als Folgesprung, links etwas milder in die Tiefe, aber unten zwei von diesen engen Buschhecken. Dies könnte eine echte Klippe sein, für Pferde, die Probleme haben, bei Tiefsprüngen auf den Beinen zu bleiben. Die rechte Version stammt von Pierre, bei der linken wollte sich der Technische Delegierte profilieren. Jetzt sind beide Herren gespannt, welche Route bevorzugt wird. Die herrlichen blauen Hortensienbüsche, die den Fuß der Tiefsprünge verzieren, erfreuen die Besucher, den Reitern entgeht ihr Anblick natürlich. „Eine Gelegenheit mehr, vorbeizulaufen“, sagt Lucinda Green pragmatisch zur linken Variante. Die fünffache Badminton-Siegerin und Weltmeisterin, heute renommierte Trainerin, lässt sich zusammen mit uns von Pierre durch den Kurs führen. Sie verwickeln sich in allerlei Fachgespräche. Wie schwimmt man am besten mit Pferden? Sooo abwegig ist die Frage nicht, denn zweimal geht die Strecke mit Hilfe von Pontons über den Grand Canal.

Direkt vor den Tribünen wartet das dritte Wasser, Einsprung über einen dicken Baumstamm. Pierre setzt sich drauf, um uns das Hindernis zu erklären. Das hätte er besser gelassen. Ein weiterer Sicherheitsmensch eilt hinzu, und erklärt ihm, dass das gar nicht ginge. Unter keinen Umständen. So seien die Vorschriften. Die Herren diskutieren eine Weile, Pierre sagt, wer er ist. Hilft ihm gar nichts. Er tritt schließlich die Flucht nach vorne an und lobt die Konsequenz des Ordners. Der lächelt sogar ein bisschen. Die einzigen, die die Hindernisse berühren dürfen, aber nicht sollten, sind die Pferde. Die Reiter sind jetzt bald zuhause. Die Revolutionsparole Liberté, Egalité, Fraternité steht auf einem Oxer, bis sie schließlich nach dem „Los Angeles“-Sprung am Ziel sind, hoffentlich heil und gesund. Dann erst kann Pierre wieder durchatmen.

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Gabriele PochhammerHerausgeberin

Herausgeberin des St.GEORG, den sie als Chefredakteurin von 1995-2012 als erste Frau auf dieser Position verantwortet hat. Als Berichterstatterin auf elf Olympischen Spielen und unzähligen Welt- und Europameisterschaften. Erfolgreiche Pferdezüchterin: Der von ihr gezogene Wallach Leonidas II war eines der besten Vielseitigkeitspferde seiner Zeit. Eines der Fachgebiete: internationale Sportpolitik, schreibt für die Süddeutsche Zeitung.

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  1. Hans-Christoph Stahlberg

    „Descartes, Voltaire und Diderot steht auf den Rücken“, das wird zwar die Pferde nicht beeindrucken, ist aber doch ein netter Hinweis auf die Geschichte der Kulturnation. Ein wirklich neuer inspitierender Parcours.


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