Die Frage, was für ein Mensch das Pferd eigentlich sei, das man gerade unter dem Sattel hat, hat sich wohl jeder schon mal gestellt, der Pferde liebt und sich intensiv mit ihnen beschäftigt. Isabell Werth hat ihrem neuen Buch diesen Titel gegeben. Die langjährige FAZ-Autorin Evi Simeoni hat kongenial in Worte gefasst, was es damit auf sich hat. Wer wie Isabell Werth seit 35 Jahren im Spitzensport mitmischt, sieben Olympiamedaillen im Schrank hat, zehn verschiedene Pferde bei internationalen Championaten vorgestellt hat, der kann einiges dazu sagen, was auch Otto Normalreiter schon immer wissen wollte.
Diva, Macho, Teufelsbraten – so beschreibt Isabell Werth drei ihrer Pferde, Bella Rose, Quantaz und Antony. 15 weitere Namen kommen hinzu, 18 Pferde, von denen einige Sportgeschichte geschrieben haben, andere ihre Reiterin vor schwer lösbare Aufgaben stellten und einige, bei denen sie sich eingestehen musste, dass nicht jedes Pferd zum Olympiasieger geboren ist. In ihr Herz trabten sie alle. Sie nennt Pferde ihre „Lebensabschnittgefährten“ und der Vergleich mit der Erziehung von Kindern bleibt nicht aus. Eine gewisse Vermenschlichung gibt sie zu, aber keine Verniedlichung. Pferde sind für Isabell Werth, die aus einer rheinischen Bauernfamilie kommt, keine Schoßhündchen, sondern Sportpartner, von denen Leistung gefordert wird, eine Sichtweise, die heutzutage nicht immer populär sein mag, aber ohne die es keinen Pferdesport auf olympischem Niveau gäbe.
Wie ist mein Pferd gestrickt, was braucht es, um seine Talente voll zu entfalten, wie muss ich es reiten und wie kann ich seine Bedürfnisse decken, damit es sein Bestes für mich gibt und selbst auch Freude am Sport hat – das sind die Fragen, die sich ihr jeden Tag aufs Neue stellen. Werths Grand Prix-Karriere begann auf dem hannoverschen Wallach Weingart, der wie alle ihre ersten Pferde ihrem großen Förderer Uwe Schulten-Baumer gehörte. Heute ist Madeleine Winter-Schulze, ihre Mäzenin, inzwischen auch enge Freundin, die dafür sorgt, dass Isabell immer wieder gute Pferde unter dem Sattel hat. Weingart bezeichnet sie als „den Pädagogen“, der ihr alle Grand Prix-Raffinessen beibrachte und mit dem die damals 20-Jährige 1989 in Mondorf ihr erstes EM-Teamgold für Deutschland holte. Einen vierbeinigen Lehrmeister wie Weingart wünscht sich jeder junge Reiter. Und auch die Pferde, die danach kamen, profitierten davon, dass ihre Reiterin vieles schon eingeübt hatte, das sparte Trainingsaufwand und damit Kraft.
Kurz darauf trat der Hannoveraner Gigolo v. Graditz in ihr Leben, damals erst sechs Jahre alt, „der Athlet“, dem Isabell Werth die größten Erfolge ihrer Karriere verdankt. Mit ihm gewann sie sechs ihrer zwölf olympischen Medaillen, darunter vier goldene. Sie waren jahrelang das Paar, das es zu schlagen galt. „Wie Bruder und Schwester“, schreibt sie in ihrem Buch. „Wir kannten einander in- und auswendig.“ Er war das erste „Lebenspferd“, von dem es angeblich nur eines für jeden Reiter gibt. Was im Fall von Isabell Werth nicht stimmt, denn die Fuchsstute Bella Rose, der nicht ohne Grund das erste Kapitel gewidmet ist, das Pferd, das ihr in Tokio 2021 die vorläufig letzten Olympiamedaillen bescherte, Mannschaftsgold und Einzelsilber, steht ihrem Herzen näher als jedes andere. Isabell Werth beschreibt, wie sie eine Gänsehaut bekam, als sie die langbeinige Stute das erste Mal im Stall ihres Züchters sah, gerade angeritten, aber von einer Ausstrahlung, wie sie nur ganz wenige Pferde besitzen. „Sie hat so viel Würde“, schreibt sie, „Bella Rose war ein Traumbild, das sich in der Wirklichkeit materialisiert hatte. Ein Stück Vollkommenheit.“ Auch als Zuschauer konnte man sich der Präsenz dieser eleganten Fuchsstute nicht entziehen, die geborene Diva, ohne Starallüren, dafür mit einer unbändigen Gehlust, die es in geregelte Bahnen zu lenken galt. Aber wie so oft bei den wirklichen Genies verlief ihr Leben alles andere als gradlinig. Nach Werths Beschreibungen lernte sie alle Lektionen der höheren Dressur in Nullkommanichts, feierte auf Anhieb sensationelle Erfolge und verdrehte allen Hengsten auf den Abreiteplätzen den Kopf – doch dann kam der Einbruch. Ein Knochendefekt am Vorderbein, der zum ersten Mal nach der gewonnenen Mannschaftsweltmeisterschaft in Caen (Frankreich) auftrat, setzte die Stute insgesamt vier Jahre außer Gefecht, von acht bis zwölf, normalerweise die Jahre, in denen ein Dressurpferd zu voller Blüte heranreift. „Der Bruch im Ausbildungsprozess ließ sich nicht mehr ausgleichen“, schreibt Isabell Werth. Doch Bella kam zurück, wurde 2018 zweimal Weltmeisterin, und gewann in Tokio mit 17 Jahren nochmal zwei Medaillen, Teamgold und Einzelsilber. Beim tränenreichen Abschied 2022 in Aachen, in von tausenden von Menschen, die mit ihren weißen Taschentüchern winkten, wurde Bella Rose in den Ruhestand verabschiedet, aber da hatte sie schon ihre zweite Karriere eingeläutet: Sie war bereits tragend. Natürlich wurde sie auch eine perfekte Mutter, mit einem perfekten Fohlen, was sonst?
Aber nicht nur Pferde wie Bella Rose begleiteten Isabell Werths Karriere, wir lernen sie alle kennen: den Macho Quantaz, mit dem Machtproben tunlichst zu vermeiden sind, die treue Weihegold, die für die verletzte Bella Rose die Medaillen holen musste. Ob sie wohl gemerkt hat, dass ihre Reiterin ihr nicht ganz so viel Zuneigung entgegenbrachte wie der Fuchs-Konkurrentin? Don Johnson, der Revolverheld, der immer mal wieder (vergeblich) versuchte, sich seiner Reiterin zu entledigen, Satchmo zwischen Genie und Wahnsinn, dessen Nerven ausgerechnet bei den Olympischen Spielen 2008 in Hongkong das zweite Einzelgold für Isabell vermasselten und, und, und. Jedes Pferd eine neue Aufgabe. Bei jedem Pferd müssen Kooperation und Vertrauen verdient und die Arbeit individuell gestaltet werden. Man gewinnt keine sieben Olympiagoldmedaillen ohne harte Arbeit, jeden Tag. Enttäuschungen und Ratlosigkeit bleiben nicht aus. Ohne Konsequenz geht es nicht. Der Reiter muss der Leitwolf bleiben, Dressurreiten ist Sport, keine Spielerei. Viele Nächte habe sie wachgelegen und über ein Problem gegrübelt, bis sie eine Lösung gefunden habe, schreibt Werth. Ihre Pferde haben es ihr gedankt. Wer selber reitet, weiß nach der Lektüre des Buches, dass es nicht darauf ankommt, das Pferd in eine Schablone zu pressen, auf bestimmte Lektionen zu trimmen. Sondern sein Herz zu gewinnen und heraus zu finden, was für ein Mensch es eigentlich ist.
Isabell Werth und Evi Simeoni: Was für ein Mensch ist mein Pferd? Diva, Macho, Teufelsbraten – 15 starke Charaktere und was sie uns lehren. Piper Verlag, München 2024, ISBN 978-3-492-07208-3, 20 Euro.
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