Bei den Olympischen Spielen in Paris hat Michael Jung Geschichte geschrieben: dreimal Einzelgold in der Vielseitigkeit. Das hat noch keiner zuvor geschafft. Sein Erfolg ist die Teamleistung eines Familienunternehmens über drei Generationen rund um einen Ausnahmesportler, der für immer „der Michi“ bleiben wird.
Sein Blick im Sattel ist nach wie vor derselbe. Die Augen etwas schmaler als sonst, 110 Prozent Konzentration. Fokussiert sein, Distanzen sehen, Rhythmus finden, das Pferd in der Balance halten. Inmitten der Hinderniskomplexe wie auch auf der Strecke. Die Körperspannung enorm, aber dennoch die Flexibilität und Geschmeidigkeit, die es braucht, um das Pferd maximal zu unterstützen. Und minimal zu stören.
Wir haben Michael Jung vor den Olympischen Spielen in Paris im Juni beim CCI in Luhmühlen begleitet. Erschienen ist dieser Beitrag in der St.GEORG Ausgabe 8/2024.
Bevor er mit „Chip“ in die Startbox von Luhmühlen reitet, trabt er noch einmal vor den Zuschauern, die die ersten Meter des Mannes, dem viele zutrauen, beim vierten Start bei Olympischen Spielen die dritte Goldmedaille in der Einzelwertung zu gewinnen, nicht verpassen wollen. Mit Stolz gewölbten Hals trabt der großrahmige Hannoveraner vor seinen Fans. Ein Lächeln huscht über das Gesicht von Michael Jung. Dann wendet er nach rechts zur Startbox. Das Lächeln ist verschwunden.
Fokus, Fokus, Fokus
Der fokussierte Blick beherrscht die Züge des 42-Jährigen, dessen Karriere 2010 mit seinem ersten Einzeltitel begann und deren Ende nicht abzusehen ist. Damals war er 28 Jahre alt und wurde in Kentucky Weltmeister mit Sam, „La Biosthetique Sam“, wie er noch heute in der offiziellen Interviewsituation sagt, wenn er über den Rentner spricht. Jung weiß, was er seinen Unterstützern verdankt.
Auf den Kniff, den Sponsor ohne Punkt und Komma in den Pferdenamen einzubauen, ist vor ihm noch niemand gekommen. fischerChipmunk, zuhause „Chip“, ist nicht nur seine aktuelle Nummer eins, sondern dokumentiert auch die enge Verbundenheit mit der Familie des Dübel-Industriellen aus Waldachtal, das nur eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt ist von Horb am Neckar, wo Familie Jung ansässig ist.
Olympia im Blick
Chipmunk ist auf der Strecke. Der Braune ist austrainiert, galoppiert rhythmisch über die Geländestrecke in der Lüneburger Heide. Sein braunes Fell glänzt. Die Sonne ist gnädig an diesem Nachmittag, in dem das CCI4*-S in Luhmühlen seinen Höhepunkt hat. Sie setzt den muskulösen Körper des Contendro-Sohns, seine Sehnen, seine Adern, die hervortreten, nahezu hollywoodreif in Szene.
Wenige Stunden zuvor musste der Brite Tom McEwen noch in der Fünf-Sterne-Prüfung angehalten werden, weil sich zum Starkregen noch Blitze gesellt hatten und ein Baum am Stadion umgefallen war. „Wir haben unser Wetter mitgebracht“, hatte der Brite gescherzt. McEwen, der in Tokio Mannschaftsgold und Einzelsilber gewonnen hat, ist einer der Mitfavoriten auf Olympiagold. Und damit auf die Medaille, um die sich vieles im Leben von Michael Jung derzeit dreht.
Die MIM-Frage
Noch immer sitzt der Stachel tief, dass ein Sicherheitssystem (MIM) auf der Geländestrecke von Tokio einen Oxer erst zusammenfallen ließ, als Jung schon mehrere Galoppsprünge hinter dem Sprung war. Das hatte ihn die Goldmedaille gekostet, es wäre die dritte in Folge gewesen.
Nicht erst seit seinem Tokio-Trauma hat Jung da eine dezidierte Meinung. Beispiel: MIM-Oxer als Wassereinsprung. „Ist MIM eine Verbesserung in unserem Sport? Das macht ihn sicherer, unterschreibe ich, es soll die Stürze verhindern. Das ist ganz klar so. Das ist auf jeden Fall auch ne gute Sache. Solange allerdings die nicht hundertprozentig funktionieren, bin ich der Meinung, kann man dafür keine Minuspunkte geben, weil es einfach in gewissen Situationen ungerecht ist. Man bringt eigentlich jedem jungen Pferd bei, etwas vorsichtiger ins Wasser rein, bisschen ökonomischer reinzugehen. Das wird jetzt bestraft.“
Einmal Michi, immer Michi
Doch Michael Jung, der ewige „Michi“ wie ihn alle nennen, blickt nicht zurück, sondern nach vorn. Chipmunk ist in einer Topverfassung. Als er nach sieben Minuten und vier Sekunden ins Ziel galoppiert, sieht man dem 16-jährigen Hannoveraner die 3990 Meter, die hinter ihm liegen, nicht an. Lässig galoppiert Michael Jung noch eine Runde auf der großen Wiese hinter Start und Ziel. Als er durchpariert, läuft eine Frau in Jeans, Tweed-Janker und rostbrauner Mütze auf dem strahlend weißen Haar über den Platz – das Abklatschen von Mutter Brigitte und Sohn ist Bestandteil des Turniers. „Mensch Michi, wie hast du das nur wieder hingebracht“, freut sie sich. Vater Joachim steht im Hintergrund, wirft einen Blick auf die Konkurrenz. So wie er es schon 1999 im französischen Vittel gemacht hat, als Michi seine ersten Junioren-Europameisterschaften als Neunter und Teamsilbermedaillengewinner abschloss.
„Michi, wie hast du das nur wieder hingebracht?“
Familienunternehmen
Die Familie war und ist ein bestimmender Faktor in Michael Jungs Leben. Und die Familie wird größer und größer. Chip wird abgesattelt und in den schattigen Wald zum Abkühlen geführt. Ein schneller Kuss für Ehefrau Faye, die sich mit Pflegerin Hanna um Chip kümmert, während dessen Reiter schon sehnsüchtig vor den TV-Kameras erwartet wird.
Alles läuft, jeder Handgriff sitzt, das Familienunternehmen funktioniert. Schon als Pferdewirtschaftsmeister Joachim Jung das Talent seines Sprösslings erkannt hatte und förderte, war die Familie das wichtige Back Up. Michaels Bruder, der heute in Kanada lebt und mit einer Australierin verheiratet ist, kommt mit seinen Kindern zu Turnieren, wenn es passt. „Mich freut es, dass er mich auch immer soweit begleitet, wie es möglich ist. Meistens treffen wir uns irgendwo auf dem Turnier. Im Frühjahr mal in Kentucky oder dann eben bei den Championaten. Das bedeutet mir schon sehr viel und macht auch einfach rundherum so eine tolle Atmosphäre. So ein Wohlfühlen.“ Während Michael Jung das sagt, gehen wir gemeinsam den Kurs in Luhmühlen ab. Der Blick ist auch da konzentriert. Aber als er „Wohlfühlen“ ausspricht, strahlen seine Augen, die Mundwinkel kommen leicht nach oben.
Kinderprogramm
Aus dem Schmunzeln wird ein Strahlen, wenn Jung mit seinen Kindern unterwegs ist. Sohn Lio bestreitet sein erstes Luhmühlen zu Pferd. Pony Struwwelpeter, farblich in etwa Pipi Langstrumpfs Kleiner Onkel en miniature, darf bei der Führzügelklasse in Luhmühlen mitmachen. Was dem Dreijährigen keiner gesagt hat: Er darf dort nicht galoppieren und das findet er gar nicht witzig. Die finstere Miene hellt sich erst wieder auf, als er draußen an Papas Hand galoppieren darf. Seine kleine Schwester Mara wird parallel von Oma Simone, Fayes Mutter, getragen. Sie ist müde. Turniertage können lang sein.
Luhmühlen verläuft weitgehend nach Plan: Michael wird mit Chipmunk Deutscher Meister, ein leichter Abwurf in einer eng stehenden Dreifachen verhindert den Sieg im CCI4*-S. In dieser Wertung ist Jung Dritter und mit dem Iren Kilcandra Ocean Power, „Killy“, Vierter hinter der britischen Weltmeisterin Yasmin Ingham und Tom McEwen.
In Aachen, drei Wochen später, wird Chipmunk dann nach Dressur und makellosem Parcours die Geländestrecke erlassen werden. Das Paar ist gesetzt. Das Unternehmen Olympia nimmt an Fahrt auf.
Der Weg in den Olymp
Michael Jung ist Perfektionist. Als sein kometenhafter Aufstieg zur Nummer eins der Welt auf dem Zenit war – „2010 die Weltmeisterschaft. 2011 EM Luhmühlen, 2012, dann die ersten Olympischen Spiele und dann speziell die Jahre 14, 15 ,16, die waren schon gigantisch“ – besucht Vielseitigkeitslegende Lucinda Green „Michi“ für ein englisches Fachmagazin zuhause. Endlich, so meint sie im Vorfeld, ist da jemand, der so reitet wie die Briten, mutig, nach vorn und nicht so verkopft. Schnell muss sie erkennen, dass ihre Einschätzung falsch ist. Jung kann ihr sagen, wo er warum 17 statt 18 Galoppsprünge gemacht hat, welche Wendung ideal war.
Die Faktoren Naturtalent und Konzentration – sind sie es, die allein der Erfolg neben Trainingsfleiß und guten Pferden ausmachen? Michael Jung winkt ab: „Ganz viel Glück“, gehöre dazu. „Allein schon welche Menschen man trifft, sind ja alles so Zufälle.“ Was ihm geholfen hat: Schon früh hat er gelernt, mit Druck umzugehen. Und auch mit Misserfolgen. „John Whittaker hat mal gesagt, man verliert öfter, als dass man gewinnt. Und wenn man das realisiert und damit klarkommt, dann geht es vorwärts oder aufwärts. Dann hat man Erfolg.“ Diese Erkenntnis des Briten kann Jung unterschreiben.
Analyse und Gelassenheit
Letztendlich braucht es Erfahrung und eine gewisse Coolness, wenn es nicht geklappt hat. Dann geht es ans „Analysieren, daran arbeiten. Sicherlich ist nicht alles nur just for fun, aber trotzdem darf man auch nicht so verbohrt sein oder sich zu viel Druck machen“. Tut man das, ist der Taktfehler im ersten Mitteltrab und der Abwurf im Parcours schneller die Konsequenz, als man denkt. „Es ist der goldene Mittelweg. Dann funktioniert es auch. Gerade eben auch, weil wir es mit Lebewesen zu tun haben. Die merken das auch. Es muss mit so einer gewissen Lockerheit und mit einer gewissen Leichtigkeit geschehen, dann bringt es auch den Pferden mehr Spaß und mehr diese positive Energie.“
Energie, die auf die Tage vom 27. bis 29. Juli gerichtet ist. Auf Paris, genauer auf Versailles, wo im Park des berühmten Schlosses die Vielseitigkeitsstrecke in den vergangenen Monaten entstanden ist. Olympia „kann“ Michael Jung. Routine wird es nie. Jung schwärmt vom Olympischen Dorf, wo er mit Teamkollegen Disziplinenraten gespielt hat – Gewichtheber? Hammerwerfer? Wo er nächtliche Trainings erlebt hat, „um 23 Uhr stehen da noch 10 Leute in der Schlange und warten, bis sie aufs Laufband können und rennen dann auf dem Laufband mit Regenjacke und Kapuze, um noch mal richtig Gewicht zu verlieren.“ – Und wo Usain Bolt ganz ohne Security sich bei der Eröffnungsfeier vorm Einmarsch der Atlehtinnen und Athleten nur wenige Meter entfernt warmtänzelte.
Leben mit Kindern
Die Familie, die Schwiegermutter, alle nehmen ihm vieles ab, die Vorbereitung läuft. Und dennoch ist eines anders. Die eigene Familie, Lio und Mara – „da kommt einfach schneller mal irgendwas dazwischen, was man am Anfang auch nicht gewöhnt ist“, sagt der Vater und schöpft Kraft daraus: „Man lernt, ein bisschen flexibler zu sein in manchen Dingen. Vor allem aber sind da so viele positive Momente.“ Haben die Kinder ihn verändert? „Also definitiv kann ich sagen geht man ein bisschen entspannter mit Misserfolgen um.“
Misserfolge? Eigentlich ein Fremdwort im Jungschen Wortschatz. Apropos – Hoch- und Tiefsprünge, mächtige Oxer, massive Baumstämme, der Vielseitigkeitssport ist gefährlich. Auch absolute Top-Reiter sind dagegen nicht gefeit. Es gibt sie, diejenigen, die einst ebenso forschen Schritts Distanzen auf der Cross Country-Strecke abgingen wie Michael Jung es gerade in Luhmühlen tut, und die nun im Rollstuhl sitzen. Darf man die Frage stellen? Hat ein Michael Jung Angst? Es braucht kein langes Nachdenken. Doch, nach Stürzen habe auch er Momente gehabt, in denen er sich sein Selbstvertrauen zurückholen musste. Routine hilft dabei, verrät der Olympiasieger. „Um das ein bisschen zu erklären, ich bin früher einmal mit dem Traktor umgekippt. Wenn ich wieder Traktor gefahren bin und über so eine kleine Bodenwelle habe ich direkt wieder gedacht, Oh Mist, jetzt kippt er gleich wieder um, obwohl eigentlich gar nichts war. Das ist eben genau die Situation, wo man dann 100 mal wieder über so eine kleine Bodenwelle fährt und plötzlich ist wieder alles ganz normal.“
Jung blickt wieder fokussiert nach vorn. Die Familie wird in Paris dabei sein. Und es gibt wohl niemanden, der sich nicht über leuchtende Kinderaugen von Lio und Mara freuen würde, wenn Papa seinen großen Traum erfüllen könnte.
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