Olympia-Teilnehmer 2024 im Porträt – ein Besuch bei Vielseitigkeitsreiter Michael Jung in 2012. Damals hatte es der amtierende Welt- und Europameister in der Hand, sich selbst zu seinem Geburtstag – und seiner Familie, die hinter dem Gesamtkunstwerk Michael Jung steht – ein einzigartiges Geschenk zu machen. Und Sam zur Unsterblichkeit zu verhelfen.
Michael Jung ist einer der Olympia-Teilnehmer 2024. Schon 2012 vor seinen ersten Spielen in London haben wir ihn besucht, da war Olympia Paris 2024 noch in weiter Ferne. Mittlerweile ist „Michi“ eine Legende, hat zweimal Einzelgold bei Olympischen Spielen gewonnen.
In einer lockeren Serie stellen wir die vor, die hoffentlich aus Versailles als goldene Reiter zurückkommen.
Das Dasein als Star ist seine Sache nicht. Dabei hätte er das Zeug für Hollwood. Er selbst und seine Geschichte. Pflegerin Claudia Weber meint, Sam sei vielleicht so wie George Clooney: Ein Gentleman, charmant und auch ein bisschen Schlitzohr. Um im Bild zu bleiben: Man stelle sich George Clooney nach einer durchzechten Nacht vor, im Bademantel und Pantoffeln. So in etwa kommt Sam am Sonntagmorgen aus der Box. Man sieht förmlich wie er auf eine imaginäre Armbanduhr blickt. In seinem Blick liegt etwas Vorwurfsvolles: „Hört mal, wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?“
Lokaltermin 7.30 Uhr am Sonntag, zwei Wochen vor der letzten Formüberprüfung in Aachen, drei Wochen vorm Trainingslager in Bonn Rodderberg. In 29 Tagen soll Sam mit den anderen Pferden durch den Eurotunnel nach Großbritannien reisen. Dann tritt die Mission Gold in die entscheidende Phase. Möchte er gähnen? Wenn, dann verhindert das die Trense. Aber der Blick sagt alles. Durchdringend und in sich gekehrt zugleich, vielleicht einen Hauch arrogant. Groß sind die Augen des Ausnahmeathleten, nicht tief schwarz, sondern eher bernsteinfarben. Besonders!
Olympia 2024 Teilnehmer Michael Jung
Seitdem diese Geschichte über Michael Jung im St.GEORG 8/2012 erschienen ist, hat er alles gewonnen, was es in der Vielseitigkeit zu gewinnen gibt: Er wurde Olympiasieger in London und Rio, er war Weltmeister, mehrmaliger Europameister und Deutscher Meister. Er hat Badminton und Burghley gewonnen, Kentucky und Luhmühlen, er war Rolex Grand Slam- und Weltcup-Sieger sowie neunmal Berufsreiterchampion. Zu seinen Erfolgspferden gehörten und gehören Sam, Rocana, Leopin, River of Joy, Takinou, Wild Wave, Halunke, Kilcandra Ocean Power und Chipmunk.
Der einzigartige Sam steht mittlerweile mit Kentucky-Siegerin Rocana als Rentner auf der Weide bei Familie Jung in Horb. Der familiäre Fantross ist gewachsen: 2021 haben Michael Jung und Faye Füllgraebe geheiratet und kümmern sich auf Turnieren nicht mehr nur um ihre Pferde, sondern auch um Kinderbespaßung für Sohn Lio und Tochter Mara.
Holperiger Weg
Es gab Fragezeichen. Unstimmigkeiten mit der ehemaligen Besitzerin nach dem Triumph bei den Weltreiterspielen von Kentucky 2010, als die gemeinsame Zukunft des Traumpaares nicht sicher war. Als verhandelt wurde, Finanzierungsmodelle durchgerechnet, Besitzerallianzen geschmiedet wurden. Das ist jetzt vergessen. Sam ist in der Reitschule Jung, genießt die Höhenluft auf den Schwarzwaldausläufern unweit des Neckars. Eines der weiß eingezäunten Paddocks ist ihm allein vorbehalten.
Das zweite gehört River of Joy, mit dem Michael Jung in Luhmühlen deutscher Meister wurde. „Aber ich glaube, Leopin hat sich nun auch einen Platz auf Rivers Paddock verdient“, sagt Joachim Jung schmunzelnd und klopft dem braunen Halbblüter den Hals. Seine Siegesrunde beim CCI**** in der Heide ist also gut für einen Platz am Südhang. Wohl gemerkt nicht den von Sam. An ihn reicht niemand heran. Das weiß der vierbeinige George Clooney, der das Fotoshooting über sich ergehen lässt und so aussieht, als ob es ihm nach einem Espresso gelüstet. „Ganz falsch“, klärt Pflegerin Claudia auf: „Sam steht auf Apfelsaft, frisch gepresst.“ Liebend gerne beiße der Württemberger Dreiviertel-Vollblüter v. Stan the Man xx-Heraldik xx in Äpfel und sauge sie aus. Ein veganer Vampir als Medaillenfavorit in London!
Olympiasieger Michael Jung?
Lobeshymnen auf Michael Jung, der seit 2010 mehr als zehn Drei-Sterne- und zwei Vier-Sterne-Events sowie die Weltmeisterschaft der jungen Vielseitigkeitspferde, dazu Grand Prix-Platzierungen und 15 Siege in Springen der Klasse S verbuchen konnte, sind ausreichend gesungen. Übrigens nicht nur in Deutschland. Das Phänomen „Michi“ ist längst ein internationales. Den Eventern ist der Mann ein Begriff. „Schnell, macht ein Foto, da steht mein Name vor Michael Jung auf der Anzeigetafel!“ – die Australierin Lucinda Fredericks war ganz aus dem Häuschen, nachdem sie in Luhmühlen die beste Dressur geritten hatte. Den historischen Moment wollte sie dokumentiert wissen – dabei hat sie immerhin schon die Klassiker Burghley und Badminton gewonnen.
Eine der größten Tugenden: seine Konzentrationsfähigkeit. Wie kaum ein Zweiter kann Michael Jung sich auf Dinge fokussieren, auf Linien, Distanzen, Galoppsprünge, die Beschaffenheit des Untergrunds. Der Faktor Zufall spielt in Jung’schen Kalkulationen keine Rolle. „Olympia ist immer da“, sagt Michael Jung. Morgens, mittags, abends – immer ist die Frage da, wo noch optimiert werden kann. „Der Kurs in London ist kringelig, viel bergauf, bergab und enge Kurven. Das berücksichtige ich bei meinen Trainingsplänen“. Und setzt es dann gleich jenseits des schneeweißen Dressurvierecks, um das neuerdings Fahnen flattern („die interessieren jetzt keinen mehr“), auf dem hügeligen Trainingsplatz mit mehr als 40 Hindernissen Marke Eigenbau in die Tat um.
Familiärer Background
„Eine Butterbrezel? Einen Kaffee hätte ich auch da …“ Brigitte Jung braucht keinen Espresso kurz vor acht. Sie lacht ihr breites, optimistisches Grinsen. „Ein herrlicher Tag, nicht wahr?“ Strahlend kennt man sie. Jubelnd, bangend, Daumen drücken, die ganze Klaviatur des Schlachtenbummler-Daseins durchlebt Michaels Mutter auf jedem Turnier. Der Bundeschampionatsqualifikation um die Ecke, genauso wie in Fontainbleau oder Strzegom. Ihr Job? „Dasein, mit anfassen, helfen … – wenn Sie keine Butter mögen, ich hab’ auch Brezeln ohne.“ Das legendäre „Go-for-Gold-Polohemd“ ist bereits gebügelt. „Das kommt mit nach London“.
Allmählich erwacht die Anlage zum Leben. Ein paar Einsteller reiten Dressur, der Schweizer Felix Vogg galoppiert einen athletischen Braunen, der Japaner Kenki Sato kommt von einer Schrittrunde aus dem Gelände zurück. Die Nachfrage internationaler Schüler ist groß, gerade haben Australier angefragt. „Wir könnten locker eine weitere Anlage bauen, wollten wir den Anfragen gerecht werden“, sagt Joachim Jung, der das Management in seiner Hand hat. Sein Sohn braucht keinen Unterricht. Der Vater schaut beim Training zu, man tauscht sich aus. „Dem Michi kann ich nichts mehr beibringen“, sagt Joachim Jung, selbst Träger des Goldenen Reitabzeichens. Bei Hubertus Schmidt und Markus Ehning frischt Michael Jung, wenn es der Zeitplan zulässt, sein Können in den Spezialdisziplinen auf.
In allen Disziplinen top
Michael reitet derweil „g’schwind“ noch das Dressurpferd einer Kundin. Kadenziert trabt der De Niro-Enkel Desandro über den Platz, anschließend geht es auf den Geländeplatz. Das Ziel: ein großer Zirkel, in dessen Mitte sich vorwitzig ein großer Frosch breit gemacht hat. Denn die Kreisbahn steht unter Wasser. Rundherum laden unterschiedliche Hindernisse zum Wasserein- und aussprung ein. Desandro galoppiert. Joachim Jung strahlt mit der kräftiger werdenden Morgensonne um die Wette: „Das ist herrlich, darin longieren wir auch, das gibt richtig Kraft.“
Sam hat währenddessen die Morgenarbeit hinter sich, steht auf der Weide. Nicht gerade euphorisch hat er vorher noch ein Gruppenfoto inmitten seiner erfolgreichen Boxennachbarn über sich ergehen lassen – was macht man doch alles für die Presse. Jetzt widmet er sich den gesunden Gräsern des Südhangs. Uns würdigt er keines Blickes. Ein paar Starallüren hat er wohl doch. Sie seien ihm gegönnt.
Jan Tönjes hat diesen Text über Olympia-Teilnehmer 2024 Michael Jung verfasst. Erschienen ist er im St.GEORG 8/2012
Alles auf einen Blick in Sachen Olympia 2024, Reiten und Zeitplan
Zwölf Jahre ist es her, dass die Reportage entstand bevor Michael Jung erstmals Olympiasieger wurde. In diesem Jahr hat St.GEORG Chefredakteur Jan Tönjes sich wieder mit Michael Jung getroffen. Das Porträt ist die Titelgeschichte der Ausgabe 8/2024.
In der aktuellen Ausgabe haben wir alles Wissenswerte rund um Olympia zusammengefasst in einem Sonderheft, das der August-Ausgabe beiliegt. Die Ausgabe gibt es ab 23. Juli am Kiosk, oder schon jetzt hier versandkostenfrei zu bestellen.
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