Olympia-Teilnehmer 2024 im Porträt – Sandra Auffarth, Doppel-Weltmeisterin in der Vielseitigkeit. Spätestens 2014 war es Zeit, einmal bei ihr vorbeizuschauen. Zuhause sprach sie über „Wolle“ und TV-Kameras, Papas Pferdezucht, Idole auf Augenhöhe und ihre Pferde im Stall.
Wir wollen die Geschichten über die Olympia-Teilnehmer 2024 wie Sandra Auffarth erzählen. Wir haben sie besucht, teilweise lange bevor sie gen Olympia Paris 2024 aufgebrochen sind.
In einer lockeren Serie stellen wir die vor, die hoffentlich aus Versailles als goldene Reiter zurückkommen.
So also sehen Helden aus! Eine große Stalldecke wärmt, das Winterfell sprießt dennoch. Da steht er, der Held der Vielseitigkeitsstrecke rund um das Nationalgestüt Haras du Pin und kaut Stroh in seiner Box. Hin und wieder schaut er über das blau lackierte Gitter in die Stallgasse. Dort lockt ein Rundballen Heu. Wie er da so steht und kaut, sieht man ihm nicht an, zu welchen Leistungen er in der Lage ist. Aber er hat es allen gezeigt, am Samstag der Weltmeisterschaften, jenem 30. August, der vom Wetter locker mit einem schmuddeligen Tag im Spätherbst mithalten konnte. Fehlerfrei hatte Opgun Louvo das Gelände hinter sich gebracht. Nun gut, elf Starter waren schneller. Aber keiner hatte schlechtere Bodenverhältnisse zu bewältigen als „Wolle“, darauf hört der französische Fuchs, weil sein Vorbesitzer Wolfgang hieß und weil der offizielle Name Opgun Louvo – erst das „o“, dann das „u“ – über alle Sprachgrenzen hinweg ein Problem darstellt. Die elf Minuten und zwölf Sekunden in der Normandie haben gezeigt, dass Größe nicht an Zentimetern festgemacht werden kann. Größe ist, wenn einer über sich selbst hinauswächst.
Olympia 2024 Teilnehmerin Sandra Auffarth
Der Beitrag über Sandra Auffarth ist im Winter 2014 erschienen. Das war das Jahr, in dem die Pferdewirtschaftsmeisterin Doppelweltmeisterin mit dem unvergessenen Opgun Louvo, „Wolle“, wurde. Ein Jahr später gewann sie – wie schon 2011 – Teamgold und Einzelsilber bei der Europameisterschaft. Bei Olympischen Spielen gewannen die beiden 2012 Teamgold und Einzelbronze sowie Teamsilber 2016.
Mit ihrem Sportpartner für Paris, Viamant du Matz, sicherte sie sich bei der EM 2023 Teamsilber und Einzelbronze. Die beiden waren schon bei den Olympischen Spielen in Rio am Start.
Zuletzt konnte Sandra Auffarth, die auch bei den Springprofis mitmischt, ihren ersten 5*-Großen Preis in Falsterbo sichern.
Alles für die Mannschaft
Wolle hat es bewiesen, als er als letzter Starter auf die schlammige Geländestrecke geschickt wurde bei den Weltmeisterschaften. Er hat geliefert. Jeder Galoppsprung zog an den Hufen, das allein kostete mehr Kraft als das permanente Hoch und Runter in den Hügeln rund um das Nationalgestüt. Nur der Mannschaft zuliebe waren viele Reiter überhaupt auf die Strecke gegangen, auch Sandra Auffarth. Dass sie führte nach der Dressur, dass der Einzeltitel der Weltmeisterschaften zum Greifen nah war – alles zweitrangig. Gesund ins Ziel kommen, fürs Team, darum ging es. „Lieber auf Nummer sicher, lieber die Alternative beim letzten Wasser“, so die Direktive von Bundestrainer Chris Bartle. Nicht noch ein WM-Traum sollte im braun-grauen Wasser des Tümpels an Sprung 31 und 32 platzen. Als Wolle in Richtung Startbox gebeten wurde, dauerte die Schlammschlacht schon beinahe sechs Stunden, Reiter sprachen von der Kraft, die die Strecke aus den Pferden genommen hätte. Wolle präsentierte sich auf dem Abreiteplatz von seiner besten Seite. „Chris, er ist aber echt gut drauf“, habe sie gesagt, so Bärbel Auffarth, Sandras Mutter und Wolles Pflegerin, Hometrainer und Konditionsbeauftragte in einer Person. Darauf Chris Bartle zu Sandra: „Wenn du ein gutes Gefühl hast, gib Gas.“
Der Gigant
Der Boden? Die Strecke? Die Kondition? Spätestens nach der guten Hälfte der Strecke, wo nach einem langen kräftezehrenden Anstieg zwei schräge Doppelhecken warteten, war Sandra klar: Wolle hat noch Kraft. Er hatte alle Sympathien auf seiner Seite. Als Sohn der Normandie, gefeiert von den Franzosen und von dem Rest der Vielseitigkeitsenthusiasten so und so. Athletisch, aber nicht zu aufwendig in der Galoppade, zog er von Sprung zu Sprung. Keine Schrecksekunde, kein Moment des Zweifels, ganz und gar ein Champion. Einer, der am nächsten Morgen in der Verfassung frisch vor der Jury trabte und dann im Stadion von Caen im anspruchsvollen Parcours so sprang, als wolle er den Normandie-Aufenthalt noch verlängern und den Springreitern zeigen, wo der Hammer hängt. Ein Held, wie ihn nur diese Sportart hervorbringt, die von Pferd und Reiter alles verlangt und in der Partnerschaft der Schlüsselbegriff ist.
Held mit schmaler Brust und großem Herzen
Wolle guckt wieder über das blaue Gitter. Schmal ragt sein Hals aus der komfortabel gepolsterten Halsöffnung seiner Stalldecke heraus. Er sieht aus wie ein kleiner Junge, der spaßeshalber in den Pyjama seines Vaters geschlüpft ist. Alles an dem Helden wirkt klein und zart. Unfassbar, dass dieses Pferd mit seiner eher schmalen Brust das alles so hat wegstecken können, möchte man sich wundern. Doch dann landet der Blick auf Wolles Augen: Groß sind sie, klar und mutig. Sie verraten, was in ihm steckt. Und was er will. Heute vor allem Weidegang und etwas Heu auf der Koppel. Schließlich ist Winterpause. Wolle ist abtrainiert, Sandra Auffarth kann sich auf andere Pferde konzentrieren, eigene und Berittpferde, schließlich muss das Geschäft funktionieren.
Familienbetrieb
Seit Juli ist der 40-Hektar-Hof der Familie auf ihren Namen überschrieben. Mehr Bürotätigkeiten warten jetzt auf die 27-Jährige. Selbstverständlich wird sie auch weiterhin von ihren Eltern und Bruder Jan unterstützt, aber der Wechsel ist vollzogen. Vergangenes Jahr ist ihr Vater Karl-Heinz 65 Jahre alt geworden. Er musste schon mit Anfang 20 nach dem plötzlichen Tod des Vaters den Hof in der Nähe von Ganderkesee, 20 Kilometer westlich von Bremen, übernehmen. Zwei Arbeitspferde standen damals hier. Auf ihnen ritt Karl-Heinz Auffarth zunächst, später begann er zu züchten. Und das äußerst erfolgreich: Der Siegerhengst des Springpferdezuchtverbandes Oldenburg International, Coupe d’Or v. Coupe de Coeur, ist hier in Bergedorf zur Welt gekommen. Oder Archie Bunker v. Contender, in Nordamerika u.a. in schwersten Springen in Spruce Meadows siegreich. Oder Carlos v. Coriolan, mit dem Sandra zweimal Deutsche Meisterin der Jungen Reiter wurde und Bronze bei den Europameisterschaften gewann. Carlos war nicht als Deutscher Meister geplant. Vielmehr suchten die Auffarths vergeblich nach einem geeigneten Großpferd. Deswegen wurde kurzerhand ausprobiert, wie Carlos, damals vier Jahre alt, sich über Geländehindernissen anstellt. Er hat seinen Job gut gemacht, ein Nachfolger für Pony Faryno war gefunden. Der hatte für Sandras Karriere im Busch den Grundstock gelegt. Denn der Wallach sprang gut und war in Vielseitigkeitsprüfungen platziert, als Sandra ihn übernahm. Carlos wuchs von Jahr zu Jahr über sich hinaus. Bundeschampionat, Nachwuchschampionat, Deutsche Meisterschaften Junioren … „Dann haben wir gedacht DM Junge Reiter kann er vielleicht auch noch“, erinnert sich Sandra. Und er konnte noch mehr. Mit Platzierungen in Drei-Sterne-Prüfungen verließ der Braune später den Stall. Einer der Werbeträger für die Zucht der Auffarths.
Zum Frühstück Zucht
„Zucht war immer das Thema bei uns, zum Frühstück wie zum Abendbrot“, sagt Sandra Auffarth und sitzt an dem Tisch mit der Eckbank in der Küche, von der aus ein Flur direkt in den Stall führt. Dieser Tisch könnte vermutlich ganze Fachbücher zum Thema Pferdezucht füllen, wenn man ihn denn fragen würde. „Mein Vater erkennt so viel in einem Fohlen, wenn es gerade erst geboren ist. Das ist Wahnsinn! Die Fohlen stehen noch nicht, dann wird schon beurteilt. Dafür bewundere ich meinen Vater.“ Er war es auch, der Sandra „zu jeder Hengstvorführung geschleift hat“, grinst sie. Zuchtverstand per Druck verordnet von oben? „Nein, er hat mir gezeigt, worauf es ankommt. Da kann ich immer noch viel lernen.“ Die Beurteilung älterer Pferde, die traue sie sich schon zu, so die Doppel-Weltmeisterin. Eines hat sie von ihren Eltern mitbekommen: den Spaß am Vollblut. Karl-Heinz Auffarth steht auf der Weide und klopft einer Fuchsstute den Hals: Rivera v. Rivero xx-Lordanos, die Mutter des Körsiegers Coupe d’Or. Gegenüber fressen zwei Dreijährige auf der Weide, beide von Duke of Hearts xx, dem Vollblüter, der momentan die Vielseitigkeitsszene elektrisiert. Auffarth hat sich schon früh für den Hengst entschieden – „ich habe Fohlen von ihm prämiert, die haben mich überzeugt. Vor allem, weil die Nachkommen auch springen können.“ Sandra Auffarth bricht eine Lanze für die Züchter: „Ohne sie kein Sport“.
Sandras Werdegang
Acht Jahre ist es her, dass Sandra Auffarth in die Perspektivgruppe nach Warendorf gerufen wurde. Dort hat sie ihre Prüfung zur Pferdewirtin als Jahrgangsbeste abgeschlossen, anschließend bei der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) eine weitere Ausbildung gemacht. Sie ist Fitnesskauffrau, kann Trainingspläne aufstellen und könnte die Muckibude nebenan leiten. Sie arbeitet mit einem Physiotherapeuten zusammen, hat ihren Körper besser kennengelernt. „Sportlehre in der Berufsschule war gut. Man weiß ja viel mehr über die Pferde als über sich selbst.“ Schmunzelnd erläutert sie, ganz Züchtertochter, dass ihr „Fundament lange Ausdauerläufe“ nicht zuließe, will sagen: Weil die Gelenke beim Joggen streiken, schwimmt sie lieber regelmäßig oder man findet sie beim Spinning. Am meisten profitiert habe sie von den Monaten in England bei Bundestrainer Chris Bartle. Ihr vorbildlich tiefer Absatz, ihre Sicherheit im Sattel und die Balance beispielsweise. „Die Grundlagen habe ich mir in England erarbeitet, aber bis der Körper das automatisiert hat, hat es zwei Jahre gebraucht“ – da spricht die Fitnesskauffrau.
Schneller als Usain Bolt
Auch wenn das Joggen nicht ihr Ding ist, eines hat sie in London 2012 geschafft: Sie hat 100-Meter-Legende Usain Bolt überholt. Im Olympischen Dorf sah sie den Jamaikaner vorbeischlendern, setzte zu einem frischen Schritt an und überholte den schnellsten Mann der Welt. Das, so sagt sie, sei um ein Vielfaches einfacher gewesen, als am Sicherheitspersonal bei der Weltmeisterschaft in Frankreich vorbeizukommen. Bei allem Wissen um Fitness und Planung ist es letztendlich auch das Bauchgefühl, das entscheidet. Ins Pferd hineinhorchen und dann entscheiden, ob noch mehr galoppiert oder doch mal etwas weniger trainiert werden muss, das ist das Prinzip. Auch bei der Auswahl ihrer Pferde kommt zum Sachverstand des Elternhauses eine große Portion Gefühl. „Es muss passen, ich will nichts auf Biegen und Brechen versuchen. Dann beschränke ich mich lieber auf weniger.“ Letztendlich seien Pferde wie Zweibeiner, „und man kann nicht aus jedem Menschen einen Leistungssportler machen.“ Pferde müssten von Haus aus „Spaß am Sport haben.“ Vier-Sterne, Badminton, EM, WM – das sind nicht die vorrangigen Ziele. „Ich habe viel Spaß, junge Pferde in den Sport zu bringen. Für mich ist das Schöne beim Reiten, dass es mit jedem Pferd anders ist. Ich setze mir Ziele und die will ich erreichen. Wenn ich merke, dass ich jeden Tag einen kleinen Schritt vorankomme, bin ich auf dem richtigen Weg.“ Überspringt sich ein Pferd, braucht es halt noch ein wenig, will es zu viel, wird es wieder etwas heruntergefahren – Bauchgefühl und Erfahrung entscheiden. Die Bundeschampionesse Corona v. Contendro hat ein Jahr pausiert, jetzt ist die Siebenjährige wieder fit. Jedem seine Zeit.
Perspektivwechsel
Neu ist für Sandra Auffarth, dass sie nun die Gejagte ist. „William Fox-Pitt saß auf der Pressekonferenz neben mir, das war schon krass. William war – nein, ist immer noch – mein großes Idol.“ Nur dass der Bronzemedaillengewinner von Caen noch keinen großen Einzeltitel gewonnen hat. Neu ist auch der Medienrummel. „Wolle ist mittlerweile sehr gelassen, wenn er Fernsehkameras sieht, das war nicht immer so.“ Der Terminkalender ist voll. 13. bis 16. November Australien, das Wochenende darauf zur Indoor-Vielseitigkeit nach Stuttgart zu den German Masters. Englisch ist kein Problem, Schuld daran ist ihr Freund Ed Holloway, der britische Arzt ist einer der meistgebuchten Kommentatoren bei internationalen Vielseitigkeitsprüfungen. Und doch geht das Leben in Bergedorf dann auch wieder den Gang, wie es vor den großen Erfolgen der Fall war. Immer noch kommt Springreiter Stefan Geue – der einst Shutterfly ritt – und gibt einmal in der Woche Springunterricht bei Auffarths. Die Einsteller in den Pensionsboxen sind da (und nehmen an den Erfolgen großen Anteil). Alles muss in Schuss gehalten werden, die Halle, die Führanlage, Außenplätze, Paddocks, Weiden und der Geländeplatz. Chefin Sandra ist häufiger auf Achse: Dressurschliff bei Carola Koppelmann in Warendorf, zu Marcus Döring zum Springen. Und natürlich zu den Bundestrainern Hans Melzer und Chris Bartle.
Stall voller Spitzenpferde
Aufgestellt ist sie gut. Prinz Nikolaus von Croy unterstützt sie seit einiger Zeit mit Pferden. So hat sie unter anderem den Schimmel The Blue Frontier schon auf Drei-Sterne-Niveau platziert. Seit über einem Jahr reitet sie den Iren nun. Kraftvoll galoppiert er im Training über den Geländeplatz. Und noch ein Pferd steht seit kurzem in Bergedorf. Ispo, der Wallach, mit dem Benjamin Winter in Luhmühlen tödlich verunglückt ist. Benjamins Mutter hat gefragt, ob Sandra das Pferd reiten wolle. Sie hat zugestimmt, es auszuprobieren. „Es klappt schon ganz gut“, mehr kann sie nicht sagen. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an „Ben“, mit dem Sandra zusammen in Warendorf geritten ist.
Die Nummer eins aber bleibt Wolle. Planungen für die kommende Saison hat sie noch nicht gemacht. Die Europameisterschaften finden im schottischen Blair Castle statt. „Das ist weit, da war ich schon mal als Junge Reiterin.“ Und 2016? Da möge sich hoffentlich nochmal der Traum von Olympia wiederholen. „Olympische Spiele sind etwas ganz besonderes!“ Einen Kloß hat sie nur bei einem Gedanken im Hals: „Geflogen bin ich noch nie mit Pferden.“ Sie stutzt kurz, blickt auf den Boden, dann grinst sie. „Aber nach Rio kann ich ja schlecht reiten.“
Verfasst hat diesen Text über Olympia-Teilnehmerin 2024 Sandra Auffarth Jan Tönjes. Erschienen ist er im St.GEORG 12/2014
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