ST. GEORG erhielt Zugang zu den geheimen Aufzeichnungen der Stevens-Kommission, die das Verhalten der deutschen Mannschaft im Fall Cornet Obolensky während der Olympischen Spiele in Hongkong untersuchte.
Halbwahrheiten, Gedächtnislücken und Widersprüche bei der Untersuchung der Dopingvorwürfe in Hongkong durch die Ethik Kommission der Internationalen Reiterlichen Vereinigung (FEI) haben sich die Deutschen Reiter, Funktionäre, Pfleger und Tierärzte – nicht mit Ruhm bekleckert. Doch der Öffentlichkeit wurden nur die allgemeinen Empfehlungen der Stevens-Kommission mitgeteilt, etwa eine klarere Linie der Verantwortlichkeiten und eine strengere Kontrolle der auf Turnieren tätigen Tierärzte. Die Aussagen der Akteure, die wenigstens etwas Licht in die Affäre bringen, und die Einschätzung dieser Aussagen durch die Kommission blieben geheim. ST. GEORG erhielt nun exklusiv Einblick in diese geheimen Gesprächsprotokolle, die ein ernüchterndes Bild der deutschen Mannschaft und ihrer Führung zeichnen.
Zunächst muss mit einigen Gerüchten aufgeräumt werden. Der damalige Generalsekretär der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN), Dr. HanfriedHaring, hat sich entgegen den ursprünglichen Aussagen von Mannschaftstierarzt Dr. Björn Nolting nicht im Stall der deutschen Pferden aufgehalten, als Cornet Obolensky, der nach dem ersten Nationenpreisumlauf erschöpft wirkte, von einer Pferdepflegerin zur Stärkung die ungenehmigte Spritze (Lactanase und Arnika)erhielt. Haring hat dies stets bestritten und wurde darin auch von anderen Zeugen bestätigt. Auch waren nicht der Reiter Marco Kutscher und Bundestrainer Kurt Gravemeier in der Box des Schimmelhengstes, als er zu kollabieren drohte, sondern lediglich Malin Lindskog, Cornets reguläre Pflegerin, und Marie Johnson, die auf Wunsch des Stalles Beerbaum zusätzlich akkreditierte Pflegerin, offiziell, um das Abkühlen der Pferde zu überwachen, nach Meinung der Kommission, weil sie in der Lage war, Injektionen vorzunehmen, die eigentlich nur Tierärzten erlaubt sind. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, das Pferd sei nicht kollabiert, sondern habe nur kurzzeitig gestrauchelt, eine nicht unbekannte Nebenerscheinung einer Injektion mit Lactanase, und sich dann schnell wieder erholt. Rätselhaft ist nach wie vor, wie Johnson überhaupt so schnell an die Mittel gekommen war. Nolting hatte es zwar, wie alle Medikamente, vor der Abreise aus Deutschland an sich genommen, aber Marie Johnson hatte keine Mühe, die Flaschen mit Lactanase und Arnika zu holen. Sie zog zwei Spritzen auf und brachte sie in der Handtasche in den Stall. Weil die anderen sie nicht sehen sollten, sagte sie der Kommission Die anderen waren deutsche Spitzenfunktionäre, die sich zu diesem Zeitpunkt im Stall aufhielten.
Von mehreren Seiten wurde der Kommission bestätigt, dass Reiter und Pfleger regelmäßig selbst ihre Pferde spritzen. Das bestätigte auch der Chef de Mission, Reinhard Wendt, der Kommission, gleichwohl er diese Situation als inakzeptabel beschreibt. Als Marie Johnson für Hongkong akkreditiert wurde, stand jedenfalls Spritzensetzen nicht in ihrer Jobbeschreibung. Sie wurde ins Team eingeschleust, um die Pferde zu behandeln, sagte Wendt im Rückblick. Möglich wurde das alles durch die schwache Position von Nolting, der es offenbar aufgegeben hatte, das Heft in der Hand zu behalten. Bevor er auch nur versucht hatte, das Medikament genehmigen zu lassen dazu hatte er immerhin zwei Stunden Zeit hatte Marie Johnson es bereits angewendet. Sie sei davon ausgegangen, Nolting sei informiert und einverstanden, gab sie zu Protokoll. Und auch Marco Kutscher war der Ansicht, die Verantwortung läge nun beim Vet. Ludger Beerbaum äußerte vor der Kommission den Verdacht, dass Nolting womöglich den Stall verlassen hat, um bei den Injektionen, deren Genehmigung durch die Turnierleitung in keiner Weise sicher war,nicht dabei zu sein. Beerbaum: Es gibt die Erklärung, dass er wahrscheinlich nicht wollte, dass ein Tierarzt weiß, dass wir unsere Pferde behandeln. Nolting wurde dann zurückgerufen, als das Pferd zu kollabieren drohte.
Vier Leute wussten nachweislich von der Injektion, die beiden Pflegerinnen, der Reiter, der Tierarzt und eventuell der inzwischen aus dem Amt geschiedene Bundestrainer Kurt Gravemeier, der jedoch nicht zur Befragung zur Verfügung stand. Ein Augenmerk richtete die Kommission auf den genauen Zeitpunkt, wann die anderen deutschen Funktionäre von der nicht genehmigten Injektion erfuhren. Wir finden es schwer zu glauben, dass keiner der anderen Personen, die sich im Stall aufhielten, als Cornet Obolensky in seiner Box strauchelte, in Hongkong erfuhren, dass eine nicht genehmigte Injektion verabreicht worden war, so der Bericht. Nolting jedenfalls sah keine Veranlassung, zu irgendjemandem etwas zu sagen. Keiner hat mich angesprochen, nicht der Equipechef (Gravemeier) und nicht der Chef de Mission (Wendt). Wenn die nichts sagen, warum sollte ich die Diskussion starten? Das hätte uns auch nicht weiter gebracht.
Die Kommission beschreibt Noltings mangelndes Durchsetzungsvermögen.Frage: Haben Sie denn nicht zu Hanfried (Haring) oder Breido (Rantzau) gesagt, diese Frau (Marie Johnson) darf nicht mehr in die Nähe dieses oder irgendeines anderes Pferdes für den Rest dieser Olympischen Spiele kommen? Sie hat zwei Injektionen entgegen Ihren Anweisungen gegeben. Als Professional müssen Sie sehr beunruhigt darüber gewesen sein, dass sie dieses Pferd behandelt hat. Darüber haben Sie mit Breido und Haring nicht gesprochen?
Nolting: Ich weiß, dass meine Position als Mannschaftstierarzt nicht stark genug ist, um diese Dinge gegen die Verbandsfunktionäre durchzusetzen. Und der Einfluss oder die Situation von Ludger Beerbaum gegenüber dem Verband verglichen mit meiner ist stärker… Ich habe nicht die Macht, sie (Marie) außen vor zu lassen. Und das vier Jahre, nachdem durch eine ungenehmigte Behandlung mit einem Cortisonpräparat bereits das olympische Gold von Athen wieder zurückgegeben werden musste…
Für die Stevens-Kommission steht fest, dass die deutschen Spitzenfunktionäre bereits in Hongkong über die nicht genehmigte Behandlung Bescheid wussten, ohne den Weltverband zu informieren. Das Stillschweigen hielt bis zum Frühjahr 2009, als der Vorfall in den Medien auftauchte. Der Rest ist bekannt: Die FN löste die Kader auf und ließ eine Kommission des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) 99 Sportler und Funktionäre einzeln auf ihre Einstellung zu Doping durchleuchten. Herausgekommen sind zumindest einige strenge Empfehlungen, wie die strikte Null-Lösung für jegliche Medikation. Auch der Verband erließ einen Maßnahmenkatalog, mit dem unter anderem eine klarere Befehlsstruktur sicher gestellt werden soll. Aber umdenken, das müssen sie schon selbst, alle miteinander, Reiter, Pfleger, Tierärzte und Funktionäre.
gp
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