Neuroathletik: Wie ist das denn nun damit?

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Ob diese Reiterin merkt, wie schief sie sitzt? Gut möglich, dass ihr Gehirn ihr signalisiert: Alles super, weiter so! (© toffi)

Vor einigen Jahren boomte die Neuroathletik. Besser Reiten durch ­Schielen? Nein, aber wie integriere ich das Hirntraining in meinen Alltag im Stall? Und ist es die ultimative Lösung aller Reitprobleme?

Ein bisschen Augenrollen, mal nach rechts, dann nach links zu einem Gegenstand am äußersten Rand des Gesichtsfeldes blicken. Und schon klappt es mit dem geschmeidigeren Sitz, den ausbalancierter gerittenen Seitengängen oder im Parcours? Wenn es denn so einfach wäre. Nicht, dass Neuroathletik derartige Heilsversprechen formulieren würde, aber manchmal kommt eine Botschaft anders an, als intendiert. Vor allem, wenn auf der Stallgasse darüber gesprochen wird. Oder beim Schrittreiten.

Neuroathletik kann viel verändern. Aber, warnt Gabriele Nimsky, das Do-it-yourself-Hilfsmittel zum Optimieren des eigenen Reitens ist sie nicht. Streng genommen ist ein reiterliches Problem immer ein Mangel an Koordination. „Wenn etwas im Sattel nicht funktioniert, dann liegt dem ein Problem der Bewegungssteuerung zugrunde“, so die Pferdewirtschaftsmeisterin aus Baden-Württemberg, die sich in vielen Bereichen weitergebildet hat. Unter anderem ist sie auch EM-Bewegungstrainerin. Viele Dinge greifen beim Reiten ineinander, das macht den Sport und die Trainingslehre so herausfordernd. Reitlehre und Bewegungslehre nach Eckhart Meyners genauso wie Elemente der Neuroathletik. „Ich halte nichts davon, Übungen einfach rauszuhauen – man kann einfach viel falsch machen.“ Betreuung bzw. Begleitung ist wichtig.

Das richtige System ansprechen

Ein Beispiel: Die Kommandozentrale will etwas bewirken. Die betroffenen Körperteile als ausführende Organe scheitern aber daran – der Hintergrund für Einknicken in der Hüfte, eine unruhige Hand oder andere alltäglich auftauchende Sitzfehler. „Der Reiter muss wissen, was er ansteuern will“, erläutert Gabriele Nimsky. „Er muss differenzieren können, ein Gefühl dafür entwickeln, was funktioniert und was nicht.“

Wo ist mein Körper? Diese Frage muss ich beantworten können, um mit den Bewegungen des Pferdes zu harmonieren.

Trainerin oder Trainer können vom Boden unterstützen. Sie müssen aber wissen, welches System des Reitschülers sie ansprechen müssen. Häufig kann über visuelle Reize etwas zum Besseren verändert werden. Zentral beim Reiten ist die Balance, das Gleichgewicht. „Wo ist mein Körper? Diese Frage muss ich beantworten können, um mit den Bewegungen des Pferdes zu harmonieren“, betont Gabriele Nimsky.

Propriozeption ist das Stichwort. Also einschätzen zu können, wo sich mein Körper im Raum befindet. Um diese zu verbessern, gibt es viele Übungen. Zuerst aber helfen Testbewegungen bei der Analyse, wo das Problem genau angesiedelt ist. Und welche Bereiche aktiviert werden sollten. Ziel ist es, die Abfolge von Information, die das Gehirn erhält und den (Bewegungs-)Befehl, den es daraus entwickelt, zu optimieren. Die Reizverarbeitung zu beeinflussen, ist eines der Grundprinzipien der Neuroathletik. „Hat man einen Problempunkt erkannt, muss man sich fragen, warum das System an dieser Stelle kaputt ist“, erläutert Gabriele Nimsky ihre Vorgehensweise.


Neuroathletik: Was ist das ganz genau?

Neuroathletik setzt sich zusammen aus Neuro, alles rund um die Nerven, kombiniert mit Athletik. Der zweite Begriff ist nicht einfach zu definieren. Am ehesten vielleicht mit „Bewegungsfähigkeit“, die sportlichen Wettkampf bzw. sportliche Betätigung möglich macht. Die Idee dahinter: dem Nervensystem auf die Sprünge helfen. Wenig oder gar nicht genutzte Funktionen aus ihrem Dornröschen-Schlaf erwecken, um (sportlich) weiterzukommen.

Bekanntgemacht hat das Konzept in Deutschland Lars Lienhard. Der Sportwissenschaftler hat die Fußballnationalmannschaft und Olympiaathleten betreut und den Begriff Neuroathletiktraining (NAT) geprägt. Er ist beeinflusst vom Konzept Z-Health, das der US-Chiropraktiker Dr. Eric Cobb zur Leistungsverbesserung und Rehabilitation entwickelt hat.

Dabei sollen „klassisch“ trainierbare Fähigkeiten wie Kraft und Koordination um eine weitere Komponente ergänzt werden. Durch eine Veränderung oder Optimierung der im Hintergrund ablaufenden Vorgänge wie Reizweiterleitung und die Reaktion des Gehirns. Das Gehirn kann Leistungen drosseln, wenn es meint, eine Gefahr zu erkennen. Neuroathletik will das Gehirn dahingehend beeinflussen, ein anderes Sicherheitsgefühl zu entwickeln, also nicht zu früh regelnd einzugreifen.

Die Wissenschaft hat sich noch nicht ausführlich damit beschäftigt. Trotz messbarer Leistungsverbesserungen in der Leichtathletik gibt es immer noch Skeptiker, die nach wissenschaftlichen Beweisen für das Funktionieren des Konzepts fragen.


Ein Kreislauf

Es liegt auf der Hand, dass keines dieser Systeme isoliert betrachtet werden kann. „Es ist ein Kreislauf“, sagt die erfahrene Trainerin, „eine Bewegungsschleife.“ Und an der lässt sich unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Techniken aus verschiedenen Trainingslehren arbeiten. Wenn zum Beispiel der Muskeltonus, der beim Reiten so oft geforderten „positiven Körperspannung“ entgegensteht, dann müssen Reiterin oder Reiter genau daran arbeiten. Auch isoliert. Wenn beispielsweise die Kraft in einem Arm oder einem Bein deutlich geringer ausgeprägt ist als auf der anderen Seite. Dinge, die nicht im Sattel stattfinden. „Körperseitlichkeit ist ein nicht zu unterschätzender Faktor“, sagt die EM-Bewegungstrainerin.

Geschichten bzw. Erfahrungsberichte aus der Neuroathletik gibt es viele. Etwa, dass die Position der Zunge Einfluss nehmen können soll auf Kraftentwicklung. Zunge zwischen den Zähnen des Unterkiefers = kraftloser Schwächling. Zunge unterm Gaumen = Obelix, her mit den Hinkelsteinen! Brummen, der Blick durch eine spezielle Rasterbrille – die Neuroathletik kennt viele Lösungsansätze. „Brille auf, Problem gelöst?“ Das wäre zu einfach. Das Allheilmittel ist dieses Training nicht. Was sich schon durch die unterschiedlichen Situationen, denen man beim Reiten ausgesetzt ist, erklärt: „Wenn jemand mir gegenübersitzt, kann ich sehen, wie stabil der Blick ist. Galoppiert derjenige an mir vorbei, ist das schwierig. Geschweige denn irgendwelche Augenbewegungen beurteilen zu können.“ Hinzu kämen die äußeren Einflüsse wie Fliehkräfte auf gebogenen Linien, bei Seitwärtsgängen oder auch im Moment des fliegenden Galoppwechsels.

Individuelles Konzept

Haben sich Trainerin und Reiterin oder Reiter zusammengefunden, wird ein individuelles Konzept erarbeitet. Trainingsinhalte werden festgelegt, die auch im Sattel geschehen. Vor allem aber auch solche, für die es weder Sattel noch Pferd braucht. Sondern vielleicht einen Stuhl, eine Matte, Gleichgewichts-Pads oder Pylonen für einen Slalom oder optische und akustische Reize. Der Dialog zwischen Trainer und Athletin, man möchte eher sagen zwischen Lehrer und Schülerin, ist dabei enorm wichtig.


Neuroathletik: 3 Systeme

In der Neuroathletik konzentriert man sich auf drei Bereiche, die Trainerinnen und Trainer sprechen von Systemen.

Unterschieden werden

– das visuelle (Wahrnehmung optischer Reize)
– das vestibuläre (den Gleich­gewichtssinn betreffende) und
– das propriozeptive (die Wahr­nehmung des eigenen Körpers nach dessen Lage im Raum be­treffende) System.


Neuer Input fürs Gehirn

Das Gehirn ist ein „Gewohnheitstier“. Viele seiner Reaktionen gründen auf gemachten Erfahrungen. Wer die komplexen, „eingeübten“ Abläufe im Gehirn verändern will, muss einen langen Atem haben. Die gemeinsam erarbeiteten Übungen müssen täglich wiederholt werden. Idealerweise mehrfach am Tag. Denn erreicht werden soll eine Umprogrammierung des Gehirns. Und mit der ist die „menschliche Festplatte“ zunächst erst einmal nicht einverstanden. Kein Wunder, schließlich reagiert das Nervensystem blitzschnell. Das Überleben des Menschen hängt davon ab, dass die Reizweiterleitung „eklatant schnell abrufbar“ ist, wie Gabriele Nimsky sagt.

Veränderung über die Atmung

Stichwort „langer Atem“, tatsächlich lässt sich über die Atmung einiges verändern. Es gibt Atemtechniken wie die Box-Atmung, die beim Yoga und in der Meditation Anwendung findet, mit der Gabriele Nimsky gute Erfahrungen gemacht hat. „Atemtraining ist auch Bestandteil des Neuroathletiktrainings. Das Gehirn benötigt auf physiologischer Basis zwei Dinge, Glukose und Sauerstoff. Aus diesem Grund kann sich durch gezieltes Atemtraining unter anderem die neuronale Aktivität des Gehirns verbessern.“ Die Verquickung unterschiedlicher Ansätze, auch aus der Kinesiologie, haben sich für sie im Trainingsalltag als äußerst hilfreich herausgestellt. „Manchmal kommt man mit minimalen Tools aus“, weiß die Trainerin, die auf mehr als 20 Jahre Erfahrung zurückblickt. Gleichgewichtstraining mit dem Gymnastikball zuhause – Bingo!

Noch einfacher: Einen Punkt in der Bewegung konzentriert fokussieren, egal ob zu Fuß oder zu Pferd. Das Gehirn ist dankbar für Input. Sich dessen und seiner persönlichen Defizite – wer merkt schon, dass er den Kopf immer schiefhält, oder eine Schulter immer deutlich tiefer hat als die andere? – bewusst zu werden, ist der entscheidende Moment. Diese Defizite abzustellen, auch mit Hilfe neuroathletischer Konzepte, ist ein langer Weg. Aber so ist es auch beim Reiten, man lernt nie aus.

Die Verarbeitung von Reizen beeinflusst die Reaktionen des Gehirns. Das Chart hat sternförmige Linien und in der Mitte einen Punkt oder Buchstaben. Die Aufgabe besteht darin, diesen Punkt mit den Augen zu fixieren, während sich der Kopf entlang der Linien bewegt. Trainiert wird dabei ein Reflexmechanismus, der dazu beiträgt, die Augenbewegungen bei Kopfbewegungen kontrollieren zu können. Diese Fähigkeit ist wichtig, um eine klare Sicht auf die Umgebung zu haben. (Foto: Heigele)

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Jan TönjesChefredakteur

Chefredakteur ab 2012, seit 2003 beim St.GEORG. Pferdejournalist seit 1988. Nach Germanistik/Anglistik-Studium acht Jahre tätig bei öffentlich rechtlichem Rundfunk, ARD, SFB, RBB in Berlin. Familienvater, Radiofan, TV-erfahren, Moderator, Pferdezüchter, Podcasthost, Preise: Silbernes Pferd, Alltech Media Award. Präsident Internationale Vereinigung der Pferdesportjournalisten (IAEJ).

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